Streitgespräch:
Kunze vs. Stuckrad-Barre (ME/Sounds
01/2000)
Heinz-Rudolf Kunze (HRK) & Benjamin
von Stuckrad-Barre (BvSB)
Heinz-Rudolf, Benjamins Verlag hat dir vor
ein paar Tagen zwei seiner Bücher geschickt.
Hättest Du die auch gekauft?
HRK: Nachdem ich sie zu lesen begonnen habe und
sie mir durchaus nicht missfallen, kann ich mir das
schon vorstellen. Ich finde diesen Ton interessant
und amüsant.
BVSB: Viel besser ist es, Bücher und
Platten käuflich zu erwerben, als ständig
Gratisexemplare aus der Post zu fischen. Gekauftes
behandelt man automatisch würdiger.
Für welches Buch hast du zuletzt Geld
ausgegeben?
HRK: 50 Mark für "Abfall für alle" von
Rainald Götz.
BVSB: Ein Meisterwerk!
HRK: Ich finde es unglaublich schlecht, aber ich
lese es gnadenlos bis zum Ende. Weil ich dafür
bezahlt habe - und weil ich herausfinden will,
warum so ein Dummkopf einen Vertrag bei Suhrkamp
haben kann. Ich kann nicht verstehen, dass ein
Mensch, der nicht in der Lage ist, zwei Sätze
in Folge zu formulieren, ohne dabei sieben Fehler
zu machen, noch immer als alt werdender Junger
Wilder durchgeht.
BVSB: Quatsch. Da Buch ist großartig. Hast
du vom selben Autor "Rave" gelesen?
HRK: Ja, das ist das schlimmste, was ich je in
Deutschland gelesen habe. Geseier. Götz bildet
den Szene-Schwachsinn eins zu eins ab, ohne
ironischen Abstand zu gewinnen. Das reicht nicht
für Literatur.
BVSB: Diese Argumentation verstehe ich nicht.
Götz montiert doch alles: Fernsehen, Pop,
Werbung, Literatur und Nachtlebensprech. Es ist
unglaublich, was er jeden Tag scannt und
gleichwertig nebeneinander stellt. Die Sachen ernst
und beim Wort zu nehmen - das ist doch eine starke
aufklärerische Arbeit. Aus so einer
Lektüre gehe ich geschrubbt raus.
HRK: Ich will von einem gewissen Standard des
handwerklich Gekonnten bei Sprache nicht herunter.
Du meinst also, dass diese objektiv misslungenen
Sätze geplant sind?
BVSB: Was ist denn ein objektiv misslungener
Satz? Das gibt es praktisch nicht. Dann gäbe
es ja auch schlechte Musik, schlechte Kunst.
HRK: Natürlich gibt es die.
BVSB: Wie ist die? Ist Modern Talking schlecht?
Ja. Aber nicht schlecht gemacht. Es weiß um
sein Ziel. Die Latte hängt weit unter der
Erde, aber sie hängt da irgendwo.
Marcel Reich- Ranicki stellt an diesem Punkt
die entscheidende Frage: "Ißßt
eßß denn überhaupppt ein
Bucchh?"
BVSB: Ich finde es falsch, zu sagen, Modern
Talking sei keine Musik. Es ist Musik, die mich
negativ berührt - was natürlich auch eine
Leistung ist. Mir fällt inzwischen auch keine
Waffe gegen Dieter Bohlen mehr ein. Vielleicht muss
man da viel fundamentaler werden und sagen: Scheiss
Land.
In der bildenden Kunst gibt es die
Unterscheidung zwischen Kunst und Kunsthandwerk:
das eine hängt in der Galerie, das andere
endet auf dem Adventsmarkt. Vielleicht haben wir
nur keinen Begriff für musikalisches
Kunsthandwerk?
HRK: Im Fall der Musik ist das eine
Schwäche. Die Pop-Musik ist ein völlig
unübersichtliches Feld, auf dem es Menschen,
die eigentlich gar nichts können, sehr weit
bringen können.
BVSB: Das erinnert mich an die rockistische
Diskussion zu Beginn der publizistischen
Wahrnehmung von Techno-Musik. Da hieß es auch
immer: "Die sitzen nur an ihren Geräten,
drücken ein paar Knöpfe &endash; das kann
meine Oma auch." Im Schwarzwald hört man das
noch immer. Auch in Hamburg zuweilen. Später
kamen dann Journalisten, die den DJ bei seiner
Arbeit beobachteten, und sie sahen: Der macht was
mit seinen Händen, also scheint das doch ein
Handwerk zu sein. Das ist alles gottlob
Vergangenheit. Was zählt, ist die
Qualität des Ergebnisses &endash; ein
eindeutiger Fortschritt.
HRK: Hat es für deine Generation eigentlich
Musik gegeben, die noch traumfähig war?
BVSB: Wasfähig?
HRK: Dich zu Träumen anregend. Oder war das
alles schon zu sehr belastet, und du wolltest nur
noch abhotten? Gibt es für dich ein Erlebnis,
wie es für mich Genesis 1973 mit "Selling
England By The Pound" war?
BVSB: Der Tatbestand "Pop" ist für mich
erfüllt, wenn ich auf etwas reinfalle. Wenn
ich etwas glaube, was nicht stimmt.
HRK: Du weichst aus. Gibt es für dich noch
ein Abfliegen zu Musik, ein Einlassen, auf eine
märchenhafte, utopische Welt?
BVSB: Wenn ich eine Robbie-Williams-Platte
höre, breche ich zusammen vor Freude.
HRK: Ist das dann auch dieses gewisse
wagnerianische Gefühl?
BVSB: Das habe ich zum Beispiel bei
Kruder/Dorfmeister. Dieses Gefühl muss es
geben. Sonst könnten wir alle sterben.
Das gibt es für jeden Geschmack. Wer's
mag, fliegt bei einem Pur-Konzert ab.
BVSB: Da muss man soviel an Dreck in Kauf
nehmen, puh!
HRK: Ich habe im Sommer als Vorband ein paar
Konzerte von Pur begleitet und das Publikum sehr
konzentriert beobachtet. Das sind genau die
Menschen, für die in der Rock-Presse nie
geschrieben wird. Die große, klassische,
schweigende Mehrheit. Ich habe dort viele Menschen
gesehen, denen Pur sehr wichtig war. Das muss man
als Beschreibungsgrundlage erst mal hinnehmen.
BVSB: Ist Pur schlechte Musik?
HRK: Pur ist handwerklich sehr gekonnte Musik.
Mir ist es etwas zu lieblich, zu vorsichtig.
BVSB: Sind die Texte nicht eine evangelische
Zumutung?
HRK: Was soll ich dazu sagen, wenn der
Sänger sich als mein Schüler
bezeichnet?
BVSB: Darf ich annehmen, dass nicht alle
Pur-Platten ganz vorn im Kunzeschen CD-Wechsler
stehen?
HRK: Da gehst du richtig.
BVSB: Und dass die Entscheidung, dort als
Vorband zu spielen, eher mit Blick auf den Markt,
denn mit Blick in den Plattenschrank gefällt
wurde?
HRK: Auch da gehst du richtig.
BVSB: Ok. Aber die völlig berechtigte
Kritik muss merken, dass sie nichts bewirkt. Die
langweiligste Form des Musikjournalismus ist ein
Pur-Verriß. Denn Hartmut Engler wird trotzdem
wieder eine Drecksplatte herausbringen, und die
wird wieder acht Trilliarden Stück
verkaufen.
HRK: Dennoch würde ich sagen: Hartmut
Engler verwaltet die uns gegebene und uns bekannte
Welt verantwortungsvoll.
BVSB: Das finde ich nicht. Ein Tu-Wort wie
"seelenaneinanderreiben" möchte ich nicht
hören. Das ist ekelhaft. Dagegen muss man
vorgehen, solange man lebt.
Gibt es auch deutsche Musik, gegen die du
nicht vorgehst??
BVSB: Element Of Crime - ja man muss diese
Wörter benutzen - betrifft mich. Tocotronic in
Auszügen. Blumfeld.
HRK: Das erste Album.
BVSB: Nein, ganz besonders auch das neue mit all
seinen Irrtümern. Ich finde es sexy, sich
künstlerisch zu irren.
HRK: Auf jeden Fall. Davon lebe ich!
BVSB: Was war denn deiner Meinung nach ein
richtiger Irrtum in deiner Karriere? Was war echte
Scheiße? Die Single "Du bist nicht allein",
ist sie dir heute peinlich?
HRK: Das ganze Album war ein Irrtum. "Alter Ego"
war die einzige Platte von meinen 19, die ich im
Rückblick nicht rechtfertigen kann.
BVSB: Das kann man elegant zertrümmern,
indem man etwas Neues dagegen stellt. Man ist ja
nie fertig. Es ist nie alles erreicht, und sobald
dein neues Produkt fertig vor dir liegt,
weißt du schon wieder, was daran schlecht
ist.
Und was war der beschissenste Text, den du
jemals geschrieben hast?
BVSB: Es gab ganz viele Sachen, die mich schon
kurz nach dem Schreiben wahnsinnig gelangweilt
haben. Schlimm war auch eine Lesung bei einer Gala
letztes Sylvester. Ich kam um zehn Uhr abends an
und sah, dass der Saal voll war mit Bausparern im
absoluten Lou-Bega-Feigenschnaps-Endstadium. Diese
Lesung, die ich dennoch gegeben habe, war das
schlimmste, was ich im Leben gemacht habe.
Das gehört zum Leben eines Popstars. Ein
eigentümliches, altes Wort, eigentlich. Wir
benutzen es noch immer, obwohl es aus einer Zeit
stammt, als man noch "groovy" sagte.
HRK: Oder "dufte" und "knorke".
BVSB: Es gibt kein besseres Wort, also brauchen
wir kein anderes.
Die damit Bezeichneten haben sich aber
völlig verändert: Skispringer werden zu
Popstars hochgejazzt. Jetzt sogar Schriftsteller.
Du gibst Lesungen, bei denen junge Menschen
hysterisch kreischen, obwohl du nicht singst oder
Platten auflegst.
BVSB: Ist es doch klasse, wenn sich Menschen
für meine Lesung extra hübsch anziehen
und sich am Gebotenen erfeuen und das auch zeigen.
Das ist nicht das Hauptziel meiner Arbeit, aber es
geht mir auch darum, so viele angenehme Menschen
wie möglich zu erreichen. Deshalb muss man
bestimmte Dinge mitspielen, Anleihen beim Pop
machen.
Heinz - ist Benjamin ein Popstar?
HRK: Sogar Jürgen Fliege antwortet auf die
Frage, ob er ein Popstar sei, mit einem klaren
"Ja". Ich selbst fasse den Begriff gerne etwas
enger. Benjamin ist ein populärer Autor, was
ich ihm gönne. Aber "Popstar" ist für
mich ganz klar musikalisch definiert.
BVSB: Die Ausweitung des Begriffes kommt ja vor
allem daher, dass sich inzwischen nachweislich alle
beim Pop bedienen - bis hin zur Werbung und
Politik. Deshalb ist Gerhard Schröder ein
Popstar. Aber es nützt ja nichts. Man
fällt ja dadurch in keine andere
Sozialversicherungsklasse. Man muss ja trotzdem
immer nachlegen. Ob ich Popstar bin, oder nicht -
mein nächstes Buch muss ich dennoch
schreiben.
Und bei den Lesungen wieder die
Jesus-Christ-Pose machen...
BVSB: Ich kann es jetzt ausnutzen, dass du noch
nie bei einer Lesung von mir warst. Natürlich
- es gibt eine Drehbühne mit
Hydraulikfunktion, es gibt riesige, aufblasbare
Bücherregale hinter mir und 100 Statisten, ich
ziehe mich während der Show acht Mal um. Pro
Text. Und das alles gibt es natürlich nicht.
Mich hat bei Lesungen nur immer diese zwanghafte
Bibelkreisatmosphäre gestört, das empfand
ich als abstoßend. Die Scham wird umso
größer, wenn man sich da hin setzt und
sich nicht verstellt - und so etwas Ekelhaftes wie
den Menschen hinter dem Autor offenbart. Sobald man
auf eine Bühne tritt, muss man eine andere
Identität annehmen.
Wer sich verstellt und dafür viel Geld
bekommt, muss auch Manns genug sein, dafür
Häme einzustecken.
HRK: Ich selbst habe von Benjamin ja auch
einiges zu erleiden gehabt. Als ich in deinem Alter
war, habe ich das mit anderen Menschen genau so
gemacht. Ich habe zum Beispiel mal im Berliner
"Tip" Peter Maffay extrem geschlachtet und ihn als
"Kurier des Kanzlers" bezeichnet. Ich wollte mich
an großen, mächtigen Menschen reiben und
damit meinen Platz im Revier sichern. Nachdem ich
ihn kennen gelernt habe, konnte ich das so nicht
aufrecht erhalten. Er hatte mich zu einem Konzert
eingeladen, sich anschließend mit mir eine
Stunde lang in seiner Garderobe hingesetzt und mich
gefragt, warum ich ihn persönlich angegriffen
habe. Das hat mich in meiner Rolle als
Hobbykritiker ziemlich erschüttert.
BVSB: Zählt das? Ist diese Befangenheit
richtig? Sollten dann nicht andere Leute über
ihn schreiben? Der Mensch muss in der Kritik
außen vor bleiben. Sonst müsste man eine
gute Platte, dessen Urheber man hasst,
verreißen.
HRK: Auch Marcel Reich- Ranicki schreibt in
seiner Biographie, dass man keine wirkliche
Freundschaft zu den Betroffenen haben kann, wenn
man die Position des Kritikers durchhalten
will.
Schreibst du noch journalistische
Texte?
HRK: Zum Beispiel habe ich über den
vorletzten Gedichtband von Durs Grünbein
geschrieben.
BVSB: In welcher Zeitung?
HRK: In der "Berliner Zeitung"
BVSB: Das bringt mich spielerisch-zwanglos zu
der Frage: "Springer"-Schweine - ja oder nein? Darf
man für die arbeiten?
HRK: Selbstverständlich, man muß.
BVSB: Stimmt. Warum?
HRK: Lenin.
BVSB: Geld?
HRK: List.
Schön. Könnten wir trotzdem
versuchen, den musikalischen Jahresrückblick
zumindest kurz abzufeiern? Was waren die Platten
des Jahres?
BVSB: Alle Kritiker wählen in diesn
Rückblicken immer so unglaublich - wie Westbam
sagen würde - interessantristische Musik aus,
statt die Platten, die sie am Selbstmord gehindert
haben. Ich sage: "My Love Is Your Love" von Whitney
Houston, dieser nun wirklich ekelhaften Frau, ist
für mich einer der Songs des Jahres.
Ist das alles?
BVSB: Ich hätte mich gefreut, wenn alle
umgefallen wären, als die Abba-Singles-Box
erschienen ist. Aber niemand außer mir fiel
um. Ansonsten habe ich mir vorhin eine Liste
aufgeschrieben mit Platten, deren Erscheinen 1999
mich erfreut hat: Pet Shop Boys, Chemical Brothers,
Element Of Crime, Blumfeld, Tocotronic, Echt, Fanta
4, Freundeskreis, Blur, Supergrass, Travis, Scritti
Politti, Lucious Jackson, Pop 2000, Terranova,
Moby, The Auteurs, Pavement, Texas, Ben Folds Five,
Muse, Nightmares On Wax, Underworld, Air, Mr. X
& Mr. Y und Cibo Matto.
HRK: Wie kann man als intelligenter Mensch Abba
lieben? Gib mal die Liste rüber.... Davon ist
mir vieles unbekannt, und das, was ich kenne, ist
mir nicht so aufgefallen. Bis auf Pavement. Ohne
die Chance zu haben, lange nachzudenken, würde
ich ergänzen: die neue The Fall und "Delta
Flora" von Hughscore. Was ich aber natürlich
erwähnen muss, ist "Bad Love" von Randy
Newman. Nach elf Jahren Pause und den vorherigen
Alben, dachte ich, er könne seinen
früheren Glanzstücken nichts mehr
hinzufügen. Aber er konnte seine Stärken
derart bündeln, dass ich regelrecht davon
erschlagen wurde. Es ist ein so bitteres Protokoll
eines älter werdenden Mannes, der gnadenlose
Dinge sagt über die Sehnsucht nach Liebe und
den Verlust der eigenen sexuellen
Attraktivität.
Als 24jähriger nicht gerade die
Hauptthemen von Benjamin...
BVSB: Ich finde Randy Newman toll. Aber ich habe
in diesem Jahr auch ein unglaubliches
Erweckungserlebnis mit deutschem HipHop gehabt. Die
Fanta Vier fand ich immer schon gut, aber was nach
ihnen kam, erschien mir zumeist ärgerlich. Als
ich jetzt 5 Sterne de Luxe, Absolute Beginners und
Freundeskreis gehört habe - toll, genial,
vonnöten!
HRK: Im Grunde war das eine ganz logische
Entwicklung. Mir war immer klar, dass sich die
deutsche Sprache für HipHop eignet, und ich
habe darauf gewartet, dass eine Musik wie diese,
die so dominant wie keine andere auf dem Rhythmus
basiert, die deutsche Sprache herausfordert. Doch
nicht alle Sprachspiele erfüllen auch das
zweite Kriterium. Das erste: Es reimt sich. Das
zweite: es bedeutet was.
BVSB: Nein. Was ist Bedeutung? Eine
Botschaft?
HRK: Etwas zu transportieren, was Sinn
macht.
Ist es nicht auch sehr deutsch, wenn bei dir
nach dem Reimen sofort der Sinn kommt?
HRK: Ich finde, das ist in jeder Sprache die
Frage, die sich stellt. (Er steht auf und geht zur
Toilette).
BVSB: Jetzt kommt mein Solo, und was macht
Kunze? Er geht aufs Klo. Was den Sinn betrifft: Der
muss vor dem Reim kommen. Heinz war nur zu
schüchtern, das zu sagen.
Bei Xavier Naidoo zum Beispiel scheint der
Sinn tatsächlich über allem anderen zu
stehen.
BVSB: Für mich waren seine Texte immer
ekelhafter, esoterisch aufgeladener Quatsch. Aber
"Eigentlich" hat mich mit all seinem Pomp voll
erwischt. Ich habe mir sofort die Single gekauft.
Das ist ohnehin ein geiler Vorgang, sich CD-Maxis
zu kaufen: 13 Mark - das lohnt sich überhaupt
nicht, ist aber ein Riesenspaß und ein tolles
Bekenntnis, einen Song zu kaufen.
HRK (kommt wieder zurück): Seid ihr immer
noch bei der Sinnfrage?
Nein, bei Xavier Naidoos Sinn des Lebens. Der
meint ernsthaft, Amerika ist Babylon und geht
demnächst unter.
BVSB: Was ich übrigens auch hoffe. Ich bin
gegen Amerika. Aber das führt zu weit.
HRK: Wie oft warst du drüben?
BVSB: Kein einziges Mal, und ich weigere mich,
jemals dorthin zu fliegen.
HRK: Benjamin, dann darfst du auch nicht
mitreden.
BVSB: Natürlich nicht, aber man darf ja
auch nicht über Modern Talking reden, wenn man
keine Platte von ihnen zu Hause hat. Man darf es
eben doch.
HRK: Das ist ein sehr hinkender Vergleich.
BVSB: Absolut.
Sehr gut. Schließlich wollen wir heute
vor allem unsere Generationenkonflikte
ausdiskutieren.
BVSB: Wollen wir das?
Du gehörst einer Generation an, der die
Heftigkeit des Ausdrucks wertiger erscheint als die
Wahrhaftigkeit des Inhalts.
BVSB: Blödsinn! Totaler Quatsch!
HRK: Wer jemals in Amerika gewesen ist, kommt
von diesem Erlebnis irgendwie verstört
zurück. Seine Werturteile sind
erschüttert. Ich war jetzt zwölf Mal
drüben. Das, was du sagst, darfst du als
schreibender Mensch nicht stehen lassen. Um Gottes
Willen! Das ist borniert!
BVSB: Das ist natürlich wahnsinnig
borniert. Aber anders als mit diesen
Ausschlusskriterien kann man die Welt gar nicht
erfassen. Ich habe eher das Gefühl, ich muss
noch sechs Mal nach Budapest fahren. Ich blende die
USA aus, um Portugal kennen lernen zu können.
Es geht um die positive Leidenschaft, darum, sich
mit Dingen, die einen nicht interessieren, nicht
aufzuhalten. Ebenso in der Musik - ich kann mir
doch nicht alles anhören. Chris Rea würde
ich mir nicht einmal - selbst wenn das ginge - mit
dem Enddarm anhören.
Du blendest Dinge wie USA oder Hartmut Engler
aus. Würdest du gerne auf den roten Knopf
drücken, der sie alle zum Verschwinden
bringt?
BVSB: Nein, das wäre auch eine extrem
faschistische Idee. Hartmut Engler sollte es nicht
geben, aber es gibt ihn. Also muss ich auf ihn
reagieren, weil ich es zu meinem Beruf gemacht
habe, auf die Welt zu reagieren. In der Form von
Text. Vielleicht dann auch mal ein Grund, doch nach
Amerika zu reisen, später.
Heinz-Rudolf, obschon Altlinker und Ex-Soze,
hat während des Wahlkampfes nie Arm in Arm mit
Gerhard Schröder auf einer Bühne "Winds
Of Change" gepfiffen.
HRK: Ich habe mich vor etwa acht Jahren von der
SPD zurückgezogen. Björn Engholm ist ein
sehr enger Freund von mir, und ich habe seinen
Abgang zum Anlass genommen, auch mich von der
offiziellen Politik zu verabschieden, da ich aus
zumindest mittlerer Nähe miterlebt habe, wie
auch Gerhard Schröder an seinem Stuhl
sägte.
Ansonsten hätten wir jetzt einen
Jazz-Fan als Kanzler, und keinen, der freiwillig
Scorpions hört.
HRK: Der findet gar keine Musik gut.
Schröder ist völlig unmusikalisch und
würde alles gut finden, was ihm weiter
hilft.
Das Essen ist da. Laßt uns etwas
Einfacheres machen. Wir puzzlen: Wie setzt sich der
ideale Deutschrocker zusammen?
HRK: Die Stimmfarbe von Peter Maffay, die
Performance von Marius, die Musik von Herbert und
die Texte von mir.
Und die Brüste von Jule Neigel.
BVSB: Nee, nee, nee, von der mal gar nichts, das
könnte viel helfen.
Statt dessen - was?
BVSB: Etwas, was aus dem Kopf von Rio Reiser
übrig geblieben ist, das Aussehen von Kim
(Echt), alles von Grönemeyer, was er einem
gibt, von Westernhagen einfach mal gar nichts, von
Blumfeld auch alles, was sie einem geben, und dann
alles zusammenwursteln und merken: es funktioniert
nicht. Wenn es doch funktioniert, könnte man
noch etwas von der Münchner Freiheit dazu
nehmen, die ich sehr schätze.
Und wie hast du die Berliner Freiheit
empfunden?
BVSB: Ich habe mir auch traurige Gedanken
darüber gemacht. Aber nur, weil ich damals im
Zonenrandgebiet wohnte, und die plötzlich in
unserer Wohnung standen. (lacht)
HRK: Ich denke, Benjamin kennt die Situation
nicht, in den Siebzigern ein gläubiger Linker
gewesen zu sein. Das war ich ja mal. Ich war ja ein
Mensch, der sich durchaus traurige Gedanken
darüber machte, dass die DDR nun
zusammenbricht.
Heinz - das muss Benjamin auch nicht
wissen
BVSB: Das ist Quatsch. Das Alter entbindet einen
überhaupt nicht davon, Dinge wissen zu
müssen. Das muss man dann eben nachlernen. Die
Jugend hat das Recht, schnöselig über
Dinge hinwegzusehen, muss es sich aber
aufbürden, diese Dinge später
nachzuholen. Sonst kann sie pinkeln gehen.
Aktuelleres Thema: CD-Schwarzbrennerei,
Schulhof-Piraterie.
BVSB: Das ist nun echt ein langweiliges Thema.
Ich möchte darüber nicht reden. Das
fragst du jetzt nur, weil du in Ruhe aufessen
willst.
Stimmt.
HRK: Ich bin in der Beziehung etwas anders
geartet. Ich kenne meine Kundschaft - die machen
das.
BVSB: Ich bringe dann immer gerne das
Good-Old-Argument, dass ich die ganze CD will, samt
Cover. Das haptische Erlebnis. Ein super
Argument.
HRK: Das ist das Stichwort. Mir als Konsument
geht es genau so. Ich möchte etwas erwerben,
will es haben, das Booklet lesen. Ich will wie bei
Büchern auch daran schnüffeln.
BVSB: Schnüffeln ist bei CDs ein etwas
einsamer Vorgang. In der Regel riecht es nicht.
Obwohl ich das Gefühl habe, Pur-Platten
riechen doch irgendwie streng.
HRK: Und meine riechen, wie du weißt,
angeblich parfümiert.
BVSB: Auch nach Erdäpfeln, ein bisschen
nach Mutterscholle.
HRK: Nein, eigentlich riechen sie nach etwas
Gutem.
BVSB: Meine Bücher riechen ja leicht nach
Chanel - das ist ein Riesen-Werbedeal. Hast Du noch
'ne Frage, Peter, oder willst du erst dein
Carpaccio essen?
Sprecht Ihr mal mit vollem Mund
weiter...
BVSB: Gut, dann lass uns über Punkrock und
die Vergänglichkeit von Musik sprechen.
HRK: Als ich vorhin los gefahren bin, habe ich
im Auto die "Nevermind The Bollocks" aufgelegt. Es
erstaunt mich immer wieder, wie normal und
geläufig man das heutzutage hören kann,
was damals so eine Revolution ausgelöst
hat.
BVSB: Diese Platte lege ich auch oft auf, um
bestimmte Zustände herbeizuführen. Aber
wenn man zum Beispiel die Bates nimmt: eine
völlig unbedeutende Band, eigentlich. Aber als
ich Abitur machte, waren die uns kurz wichtig,
einfach, weil die Älteren sie nicht kannten
Die Bates waren unsere Entdeckung, egal, wie viel
bessere alte Punkrock-Platten es gab. Pop braucht
auch immer diesen Ausschluss-Code: Ihr versteht das
nicht, das ist unsers.
HRK: Und jetzt die tödliche Frage: Wie
kannst du damit leben, dass Johnny Rotten Bands wie
Van der Graaf Generator - eine Band aus der
Ära von Genesis, Jethro Tull und Gentle Giant
- sehr geliebt hat?
BVSB: Mit Hilfe schwerer Medikamente versuche
ich, damit klar zu kommen.
Tödliche Frage zurück an Heinz: Wie
kannst du damit leben, dass deine
zwölfjährige Tochter jeden Tag
Blümchen auf VIVA hört?
HRK: Um ehrlich zu sein: Bei uns zu Hause kennt
man VIVA nicht so gut.
BVSB: Ich kucke VIVA auch nicht. Dieses
grenzdebile Gerede, aufgrund dessen man sich
über die blödesten Videos freut, nur weil
dann das Geschwätz aufhört. Dieter Gorny
ist ein Depp, ein Heuchler.
Gibt es für dich nur schwarz und
weiß, nur ekelhaft und schleck?
BVSB: Im Gegenteil: Es ist schön, dass die
Leute heute gnadenloser sein können, weil sie
sich nicht mehr zwischen zwei Dingen entscheiden
müssen. In den Achtzigern war man entweder
für Dark Wave oder für Pop. Beides
zusammen ging nicht. Heute kann man etwas Krankes
aber Tolles wie Eros Ramazotti hören, trotzem
auch interessantristische Platten. Die Leute kaufen
mit einer Platte nicht mehr ein Lebenskonzept,
sondern nur noch diese Platte.
HRK: Wie erklärst du dir dann, dass ich
noch da bin.
BVSB: Man kann ja nicht weg sein. Man kann diese
Menschen nicht entsorgen. Es gibt einen als Mensch
noch weiterhin. Und wenn man es erst meint, macht
man seine Kunst weiter. Wenn man das nicht machen
würde, wäre alles, was man vorher gemacht
hat, entwertet. Ich müsste keine Bücher
schreiben, denn es gibt mehr Bücher, als ich
in meinem Leben lesen könnte, die 100 Mal
besser sind, als alles, was ich je schreiben werde.
Trotzdem stelle ich mich hin und sage: "Genau -
Deutschland muss das jetzt lesen." Diese Haltung,
die durch nichts begründet ist als durch
Größenwahn, liegt jedem Kunstwerk zu
Grunde.
Blümchen, Oli.P, Christina Aguilera,
E-Rotic, Ann Lee - würdest du die ernsthaft
als "Künstler" bezeichnen?
BVSB: So etwas hat es doch schon immer
gegeben.
HRK: Da muss ich energisch widersprechen. Schau
dir die Charts im England der Siebziger an: Free,
Led Zeppelin, Jimi Hendrix.
BVSB: Und diese ganzen Schlagerinterpreten in
Deutschland?
HRK: Reden wir doch global.
BVSB: Ach so. ich war ja nie in Amerika.
HRK: Dein Fehler, nicht meiner.
Im Ernst - diese Leute sehen sich doch nicht
einmal selbst als Künstler.
BVSB: Klar. Bei VIVA zum Beispiel gibt es quasi
fest angestellte Acts wie Dune. Da sagt man halt:
Das ist das Elend, das ist gräßlich.
Aber das ist doch wurscht. Es wird immer Bands
geben wie die...
HRK: ...noch mal: Schau dir die "Melody
Maker"-Charts von vor 25 Jahren an...
BVSB: ...Chemical Brothers. Oder
Kruder/Dorfmeister. Die anderen sind egal. Die
Charts sind mir egal.
HRK: Du musst mal einen Abend zu mir nach Hause
kommen und dich einer Musikgeschichte aussetzen,
die du gar nicht erleben konntest. Ich würde
dir gerne mal "Passion Play" und "Thick As A
Brick" vorspielen - an einem Stück.
BVSB: Nie gehört. Und was macht man dabei,
während man das hört?
HRK: Das sind die beiden großen
Konzeptalben von Jethro Tull.
BVSB: Ist das der Mann auf dem einen Bein mit
der Querflöte, den ich ganz platt einfach nur
als ästhetisches Ärgernis wahrgenommen
habe?
HRK: Das war für uns wichtige Musik! Ich
bin nicht der Advokat der Vergangenheit. Ich will
nur gewährleistet wissen, dass die
Rock-Vergangenheit ihren Stellenwert behält.
Mein Gitarrist hat einen zwölfjährigen
Sohn, der Schlagzeug spielt und jetzt eine
Schülerband gegründet hat. Und was
hören die, um sich zu schulen? Hendrix und Led
Zeppelin.
Lesen die Rainald Götz?
HRK: Um den Bogen zu schließen: Es gibt
in dem Götz-Buch eine unglaublich
dämliche Bemerkung über Oasis. Er
schreibt, er könne das Genöle von John
Lennon nicht mehr hören. Er will aber ein
ähnliches Genöle hören - wenn es von
Liam Gallagher ist.
BVSB: Prima These. Ähnlich meinte ich es
vorhin mit dem Punkrock.
HRK: Dann ist das wohl doch ein
Generationenkonflikt - obwohl Rainald Götz
zwei Jahre älter ist als ich.
BVSB: Rainald Götz ist alters- und
geschlechtslos. Damit hat er viel erreicht. Das ist
auch mein Ziel: alters- und geschlechtslos zu
werden.
Peter von Stahl
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