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GREISER HERBST

Crosby, Stills Nash & Young, Joe Cocker, Tina Turner, Eric Clapton, Chris DeBurgh, Paul McCartney, Die Flippers, Diana Ross - im Herbst stürmen die Pop-Greise in die Charts

Von Peter von Stahl

 

HAMBURG - Wer noch immer glaubt, dass kommerzieller Erfolg in der Pop-Branche irgendetwas mit Jugendlichkeit zu tun hat, wird sich in den kommenden Wochen verwundert die Augen reiben: Die Top 20 der offiziellen Albumverkaufscharts in Deutschland werden von altgedienten Pop-Recken jenseits der Lebensmitte zurück erobert. Von Joe Cocker bis Tina Turner, Paul McCartney bis Diana Ross - der Angriff der Best Ager beschert den Hitparaden einen greisen Herbst.

 

Paul McCartney und Joe Cocker waren die ersten beiden Künstler in voller Rock-Reife, die mit ihren neuen Alben nach ganz oben schossen. Ex-Beatle McCartney (57), der im April zum ersten Mal auch persönlich Großvater wurde, schaffte es gar mit Songs, die fast so alt sind wie er selbst: Das Album "Run Devil Run" besteht ausschließlich aus im Originalsound gecoverten Rock'n'Roll-Hits der frühen fünfziger Jahre. Und weil von etlichen dieser Songs noch nicht einmal die Texte in geschriebener Form erhalten waren, erlebte McCartney im Studio einen unerwarteten dritten Frühling: "Ich mußte mir die Musik und die Texte Takt für Takt von den alten Platten heraushören. So etwas habe ich nicht mehr gemacht, seit ich 15 war. Ich fühlte mich wieder wie ein Teenager."

 

Auch Joe Cocker, der im Mai seinen 55. Geburtstag feierte, fand mit seinem aktuellen Album "No Ordinary World" einen Weg, den Zahn der Zeit zu überlisten - er gewöhnte sich vor den Aufnahmen das Rauchen ab: "Früher rauchte ich zwei Schachteln pro Tag. Ohne Zigaretten habe ich jetzt sogar noch ein bißchen an Stimmvolumen zugelegt. Zusammen mit meiner großen Lebenserfahrung, die ich jetzt in einen Song hineinlegen kann, gleiche ich das manische Element meiner Jugend nun mehr als nur aus." Das sehen seine Fans genau so - sie verhalfen Cocker allein durch die Vorbestellungen zu einer Goldenen Schallplatte. Cocker war zwar begünstigt durch die Herabsetzung der Grenzen für diese Auszeichnung von 250.000 auf 150.000 verkaufte Alben, hätte dies aber nicht gebraucht: Bereits eine Woche nach der Veröffentlichung bekam er schon die zweite "Goldene".

 

In einer Zeit, in der Jugendliche ihr stagnierendes Taschengeldbudget nicht nur für CDs, sondern für alle möglichen Freizeitgüter wie Turnschuhe, Computerspiele oder Handys investieren, ist die Verkaufswelle der Rock-Opis und -Omis Balsam auf die Umsatzwunden der Plattenindustrie. Die Bilanzen der erste drei Quartale weisen Rückgänge bis in den zweistelligen Bereich aus. Kein Wunder, dass in den Chefetagen der Plattenfirmen dem Weihnachtsgeschäft nun mit Ertrags-Heilsgebeten entgegenfiebert wird - zumal so gut wie alle Companies noch einmal ihre ältesten Pop-Pferde für den Ritt auf den Gabentisch halftern.

 

Eine Strategie, die zurzeit noch fast immer Erfolg hat, zumal einige der alten Hasen auch beim CD-Preis nicht mit sich reden lassen müssen. So wird das neue Album "Maskenball" der Schlagergruppe Die Flippers (53 bis 58 Jahre alt) zum Beispiel nirgendwo offiziell deutlich unter 40 Mark angeboten - im Zeitalter der Lockangebote ein stattlicher Preis, den die durchwegs verrentete Zielgruppe aber ohne Wimpernzucken zu zahlen bereit ist. Trotz der Hochpreispolitik rechnet sich das Geschäft mit den Best Agern des Pop: Endvierziger Chris De Burgh ("Quiet Revolution"), "Chronicles" von Gitarren-Oldie Eric Clapton (54), "Every Day Is A New Day" von der Soul-Omi Diana Ross (55), Stings "Brand New Day" oder das Mittfünfziger-Quartett Crosby, Stills, Nash & Young ("Looking Forward") - all diese Alben sorgen in den kommenden Wochen für eine drastische Erhöhung des Altersdurchschnittes in den Top 20.

 

Noch ein paar Jährchen nach oben geht dieser Schnitt, wenn Tina Turner am kommenden Montag ihr aktuelles Studioalbum "Twenty Four Seven" herausbringt: Am 26. 11. feiert sie ihren 60. Geburtstag. Die letzten drei Jahre nach ihrem 96er James-Bond-Hit "Goldeneye" nutzte sie dafür, in ihrer Villa in Zürich die kreativen Batterien wieder aufzuladen: "Ich brauchte eine Pause von der Musikwelt, musste mich von dem Business entgiften." Jetzt will ihre Plattenfirma das Produkt dieser Entschlackungskur so oft wie möglich vergolden. Unter der Hand wird gar von mehr als 300.000 Vorbestellungen gesprochen - das wäre "Platin" bereits zum Verkaufsstart. Tina Turner selbst hat jedoch langsam die Nase voll. Sie freut sich zwar, dass "Frauen heute einfach mehr Zeit haben, alt zu werden. Es gibt heute mehr Möglichkeiten als früher." Gleichzeitig kündigte sie aber an, nun zum letzten Mal in den ganz großen Ring zu steigen. Ihre am 30. Juni 2000 in Zürich beginnende Europatournee soll die letzte große Konzertreise in ihrer 40jährigen Karriere werden: "Ich werde höchstens hier und da noch ein paar Konzerte geben." Eines zumindest hat die Multimillionärin mit ihrer Zielgruppe - den nur noch selten in Plattenläden gesichteten "Sleepern" ab Anfang 40 - gemein: "Ich will mehr Zeit für mich haben, ausschlafen, lesen und ruhig zu Hause bleiben."

 

 

 

Peter von Stahl

 

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