Dieter Gorny
(Interview, ME/Sounds 01/99)
Die Tragik mit
den Trends
VIVA-Chef
Dieter Gorny im großen
Jahresrückblicks-Interview
1998
Na, Dieter, wie war Dein
Jahr?
Das muß ich in zwei Teile
unterteilen. Der erste Teil war (grinst) - wie
immer - erfolgreich, allerdings begleitet von
leichten Signalen, die auf Veränderung
hindeuten. Nicht nur für die VIVA-Sender
selbst, auch bezogen auf die Plattenindustrie und
die generell aufbrechende Medienlandschaft. Richtig
greifbar wurde dies aber erst im zweiten Teil des
Jahres: 1998 ist das Jahr der großen
Veränderungen. Wir arbeiten in einer sehr
personenbezogenen Branche - und auf einmal merkt
man, wie Personen, die man lange kannte,
plötzlich verschwinden.
Von Dir stammt der Satz, Pop
habe ausgedient als Trägermedium für
gesellschaftliche Gegenentwürfe. Das trifft
angesichts der aktuellen Katerstimmung in Bonn
offenbar auch auf die SPD zu.
Das ist gar nicht mal so
falsch. Ich würde sogar so weit gehen, zu
sagen, daß wir jetzt wieder einen Schritt
zurückgehen sollten: Vielleicht müssen
wir dafür sorgen, daß Pop - als winziger
Teilbereich dieses Gesamtgebildes der
gesellschaftlichen Kultur - wieder
gegenentwurfsfähig wird.
Auch Gerhard Schröder
ist nach der Wahl auf einmal nicht mehr der
Pop-Star, zu dem er vorher aufgebaut
wurde.
Das hat damit zu tun, daß
die Hoffnung auf einen Aufbruch derzeit betrogen
wird, weil es keinen wirklichen gesellschaftlichen
Aufbruch gibt. Ich hoffe allerdings, daß
Schröder sich durchsetzt.
Immerhin hatten sich bei
dieser Wahl wesentlich weniger Pop-Stars vor den
SPD-Wahlkampfszug spannen lassen als vor ein paar
Jahren zum Beispiel bei der "Grünen
Raupe".
Dafür haben hinter den
Kulissen wesentlich mehr Gespräche zwischen
Schröder und den Kreativen stattgefunden, als
das früher üblich war. Aber das, was
bislang rausgekommen ist, hat noch keine Bewegung
erzeugt. Das Problem ist doch, daß wir
plötzlich wieder auf einen restaurativen
Kulturansatz stoßen, der die große
Chance vertut, diese wohlfeilen Marketingbegriffe
wie "Jugend", "Zukunft" oder "Aufbruch" nicht nur
auf wirtschaftliche sondern auch auf
tatsächlich kulturelle Aspekte hin zu
definieren. Das vermisse ich.
Da muß ich dem
SPD-Mitglied Gorny die Gretchenfrage stellen: Wo
ist heute denn links, Dieter?
Ich bin nicht als SPD-Mitglied
aktiv, sondern als Medienunternehmer. Und weil ich
Medien-Machen nicht nur darüber definiere, wie
ich meine unternehmerische Position verbessern
kann, sondern einen gesellschaftspolitischen Ansatz
habe, engagiere ich mich auch weitergehend. Zu
Deiner Frage: Ich würde eher unterscheiden
zwischen politisch bewahrendem Denken und politisch
visionärem Denken - vielleicht sogar mit einem
Stück Illusion und Hoffnung. Das hat man
früher als links bezeichnet, aber der Begriff
selbst und die potentiellen Vorzeigemodelle passen
nicht mehr.
Immerhin: Kohls
Lieblingsmusiker ist Franz Lambert, Schröder
steht wenigstens schon auf die Scorpions.
Ob es nun Franz Lambert oder
Klaus Meine ist - das ist in der Tat ein
Fortschritt. Aber wir sind noch immer meilenweit
von dem entfernt, was für die Jugendlichen die
Zukunft ausmacht. Es gibt doch auch Bereiche
zeitgenössischer Kunst, die sperrig sind,
damit aber Impulse setzen. Ich habe kein Problem
mit Kommerzialität. Immer, wenn aus Kultur
Kunst wird, ist der Markt im Spiel. Das nimmt dem
künstlerischen Produkt doch nicht seine
Aussagekraft. Eine Band, die drei Millionen CDs
verkauft, muß deshalb nicht scheiße
sein. Was wir aber finden müssen, ist ein
besseres Vehikel, in dem Kunst, Politik und
Gegenwart verbunden werden können. Der
Kanzlerkanidat war kurz vor der Wahl 54 Jahre alt -
genau so alt wie Mick Jagger. Mit jugendlicher
Sozialisation hat das nichts zu tun. Wenn man sich
aber die Studie ansieht, die die Kollegen von der
"Bravo" bei den 14- bis 18jährigen gemacht
haben, erkennt man einen gigantischen
Vertrauensvorschuß, den die Politik bei der
Wahl bekommen hat. Man sieht ein konkretes
Interesse und eine ganz große Hoffnung in
diese Politik. Das kann man nicht einfach
abtun.
Wie soll die Diskussion von
Pop und Politik anlaufen. Es reicht doch nicht,
Ricky, Nena und Peter Maffay beim
Bundespräsidenten zum Nachmittagstee
einzuladen?
Grundsätzlich ist die
Politik gut beraten, wenn sie mit den Kreativen in
einen Diskurs tritt. Das kann die Garage oder der
Klub sein, genauso auch der etablierte
Künstler. Aber dahinter darf nicht das Denken
stehen, daß Kultur nur ein Ornament ist, das
eigentlich nichts mit Politik zu tun hat. Dann
nämlich bekommen wir eine Situation wie in
England, wo sich die Pop-Musiker von Blair
inzwischen verarscht fühlen und sich abwenden.
Aber: Ist es hierzulande vorstellbar, daß
sich Peter Maffay mit Oskar Lafontaine über
die Steuerpolitik streitet? Es fehlt also der
Diskurs, in dem der Pop-Musiker jetzt sagen
könnte: "Das ist eine
Scheiß-Steuerpolitik, Oskar, das kannst du
nicht machen!"
Die Musiker in Deutschland
scheinen mit den Jahren ohnehin immer unpolitischer
geworden zu sein?
Ja, aber ich bin mir ganz
sicher: Hätte man rechtzeitig bei ihnen auf
den richtigen Knopf gedrückt, hätten sie
geredet. Ein paar haben sich eingemischt, wenn auch
nur kurz. Es hätte interne Zirkel gebraucht,
in denen auch der kreative Mittelstand zu Wort
gekommen wäre. Entstollmannisiert - also nicht
rein aufs Internet bezogen.
Erstaunlich, wie dreist sich
Politiker bei der Eigenwerbung der Mechanismen des
Pop-Marketings bedienen, ohne diese vermeintliche
Modernität dann in konkrete Politik
umzusetzen.
Das Problem ist doch: Mit der
Politik verhält es sich wie mit einem duften
Pop-Song. Die Botschaft muß so nivelliert
sein, daß sie - wie beim Pop Song - von
Millionen Leuten gekauft wird. Sobald aus diesem
nivellierten Ansatz ein individualisierter wird,
schrumpft der Markt, und es wird für den
Politiker wie für den Künstler schwierig.
Beim Künstler ist das in Ordnung. Der kann
eckig und unangepaßt sein. Der Politiker hat
diese Chance nicht.
Gut, einer muß
anfangen. Wie wär's damit: Jeden zweiten
Montag im Monat trifft sich die Regierung in Dieter
Gornys Büro mit den Künstlern des
Landes?
Dafür ist mein Büro
sicher zu klein. Was wir aber auf jeden Fall
brauchen, ist eine Renaissance der
Gesprächs-Salonkultur: Leute treffen sich, die
normalerweise nicht miteinander sprechen. Alle
jungen Kreativen: Kunst, Mode, Film, Fotografie,
Musik, Labels, Vertriebe - der gesamte kreative
Mittelstand. Wenn wir unseren Wirtschaftsstandort
behalten wollen, brauchen wir Inhalte und
Emotionen. Die Leute interessiert es doch einen
Dreck, worauf zum Beispiel Musik im Endeffekt
gepreßt wird - CD, Chips oder was weiß
ich. Wir diskutieren zu viel über
Lötstellen, anstatt zum Beispiel sich Leute zu
holen, die Internet als echte Vision betreiben. Du
brauchst eher den Erfinder von Lara Croft, als
einen Programmierer, der "Windows" verbessern kann.
Eher den jungen Modedesigner als Karl Lagerfeld.
Eher den kleinen, unabhängigen Labelchef als
den großen Industrieboss.
Statt dessen diskutiert man
stundenlang darüber, wie das Internet und das
deutsche Urheberrecht in Einklang gebracht werden
können.
Das ist zweifelsohne wichtig.
Zunächst bleibt es ja aber bei dem
physikalischen Produkt - der CD. Die wird erst
einmal über ein weiteres Medium - das Internet
- vertrieben. Das ist nichts schlimmes. So
könnte man auch bei VIVA im laufenden Programm
später einmal einen Link in ein VIVA-Kaufhaus
schalten, in dem man sich die Musik gleich
bestellen kann. Es wird sich nämlich der
Computer ins Fernsehen hineinentwickeln und nicht -
wie bei der D-Box - das Fernsehen computerisieren.
Bei der anderen Geschichte, den MP4-Playern, die
man mit Musikdaten direkt aus dem Internet
füttert, bin ich eher naiv und sage: Naja,
solange es cool ist, den neuen Prince-Song im
Internet zu performen, ist das chic. Prince,
Aerosmith oder die Stones haben Songs zum
Runterladen im Netz und sagen: "Boah - bin ich
zukunftsträchtig!" Sobald es aber dazu
führt, daß die Künstler selbst kein
Geld mehr verdienen können, weil ihre Produkte
überall kostenlos im Web herumschwirren - dann
werden sie die ersten sein, die gemeinsam mit der
Industrie einen Sperr-Riegel vorschieben werden. Es
kann doch nicht deren Ziel sein, ausgeraubt zu
werden. Dann hört es auf mit der
Demokratisierung dieses Mediums.
Warum ist VIVA eigentlich
noch nicht im Web?
Mit dem Geld, die ein
Internet-Auftritt kosten würde, kann ich im
Moment wesentlich sinnvoller eine interaktive
Call-In-Sendung produzieren. Im Grunde sind wir
viel analoger, als wir immer tun.
Und viel braver, als es die
bunten TV-Bildchen glauben machen.
Ach - es gibt schon noch ganz
guten Krach: Guano Apes, Marilyn Manson, Rage
Against The Machine. Man kann noch immer so viel
Krach machen, daß die breite
Konsumentengeneration abschaltet. Für das, was
wir Pop-Fernsehen nennen, sind die zu
sperrig.
VIVA dudelt dagegen den
ganzen Tag nette Musik vor sich hin. Das brachte
dem Sender die Kritik ein, die Kids würden
keine CDs mehr kaufen, weil sie die Musik rund um
die Uhr kostenlos ins Haus gesendet
bekommen.
Ich mußte feststellen,
daß dies nichts daran ändert, daß
die Kids auf ganz bestimmte Sachen sehr scharf
sind. Erst gestern hatte ich eine erregte
Diskussion im Hause Gorny, weil die Lieblings-CD
von meiner Tochter - Xavier Naidoo - verschwunden
war. Ich glaube nicht, daß VIVA ein Ersatz
sein kann für eine klare, produktbezogene
Emotion. Im Dance-Bereich mag das zum Teil anders
sein. Dance irgendwo hören und Dance kaufen,
muß nicht so sehr miteinander verknüpft
sein. Aber wenn ich mir die Jugend ansehe,
spüre ich, daß solche Bewegungen in
Zyklen ablaufen. Als Romantiker und Optimist glaube
ich daran, daß es einen Backdrop gibt.
Daß die Leute wieder in die Oper gehen,
wieder Zeitschriften lesen, wieder konkrete
musikalische Botschaften bevorzugen
werden.
Damit stirbt
Techno.
Soziologisch gesehen war Techno
richtig spannend: Leute rotten sich unter einer
Klangglocke zusammen, kommunizieren miteinander -
und ehe man daraus kommerziell was machen kann,
sind sie schon wieder weg. Vom
Demokratisierungsaspekt der Musik war das genau so
spannend wie von den Kompositionsstrukturen her.
Trotzdem merkt man jetzt: Die Spannung legt sich.
Das Phänomen, sich zur Musik bewegen zu
wollen, bleibt natürlich bestehen - das hat es
auch bei "Saturday Night Fever" gegeben. Aber das
Phänomen, daß es zu einer Massenbewegung
wird und den gesamten Musikmarkt bestimmt, wird
garantiert verschwinden. Schon jetzt schießen
wieder personalisierte Acts wie R.E.M. oder Alanis
Morissette in den Charts hoch. Wir haben eben keine
permanente Travoltaisierung der Pop-Musik, die mit
den Bee Gees angefangen hat und nun als Endprodukt
"Alles ist Dance" heißt. Im Gegenteil - wir
haben Pendelbewegungen, Zyklen. Wir können
also konstatieren: Dance ist eine Musik, die
unheimlich spannende Momente hervorgebracht hat,
die aber wie alle Wellen am Ende auch wieder
abebben wird.
Dance war die Pop-Musik der
90er. Aber dieses Jahrzehnt geht nun zu
Ende.
Genau. Das wesentlich
spannendere Phänomen war für mich die
Entwicklung des deutschen Hip Hop in den letzten
fünf Jahren. Das ist ein eigenständiges
Stück Musik, bei dem die Leute am Wort
interessiert sind, es sogar verstehen, und das
massenhaft in der Lage ist, unsere Zeit zu
prägen.
Deutsch-Rap hat auch deshalb
Erfolg, weil die Musik selbst 30jährige nicht
abschreckt.
Richtig - er hört das, es
stört ihn nicht, und er kann sich dabei jung
fühlen. Dahinter steckt zwar noch der Teen
Spirit, es beschränkt sich aber bei weitem
nicht auf die Barbie-Generation.
1998 gab es massenhaft
Beispiele für Musik, die allein wegen ihrer
deutschen Texte mehr Aufmerksamkeit erfordert: Die
Ärzte, Xavier Naidoo, Falco, Westernhagen und
so weiter.
Und das ist doch ein Zeichen
dafür, daß der gemeine Konsument eben
doch nicht nur rumhopst und deshalb keine Platten
kauft. Der verstärkte deutschsprachige Faktor
im deutschen Musikmarkt ist im europäischen
Vergleich nichts anderes als eine gesunde
Normalisierung. Wir passen uns an das an, was in
ganz Kontinentaleuropa üblich ist: 50 Prozent
nationale Produkte in den Charts. VIVA kam exakt zu
dem Zeitpunkt, als es in Deutschland die erste
Nachkriegsgeneration gab, die mit deutscher Musik
vorurteilsfrei umging. Und deshalb haben die neuen
deutschsprachigen Musiker auch verdutzt geguckt,
als Heinz Rudolf Kunze mit seiner Quotenforderung
kam. Die sagten zu Recht: "Wieso das denn? Wir
singen deutsch - und die Leute kaufen unsere
Musik."
Dann muß man auch
damit leben, daß einer wie Moses P. das Maul
ein bißchen zu weit
aufreißt.
Der Konflikt zwischen Moses und
Stefan Raab hatte ja nichts mit der Qualität
seiner Musik zu tun, sondern mit einem
persönlichem Problem eines Künstlers mit
einem unserer Künstler. Die Sony hat sich zu
Recht vor ihren Künstler gestellt, und auch
wir haben uns vor unseren Künstler gestellt.
Mittlerweile haben wir uns in aller Ruhe mit Moses
und seiner Firma zusammengesetzt und festgestellt,
daß eine beiderseitige Dämonisierung
keinen von uns weiterbringt. Wir streiten uns im
Sender über ganz andere Dinge, wie zum
Beispiel: Ist ein kurzer Ausschnitt aus einem Film
von Leni Riefenstahl einem potentiell
rechtsauslegenden Deutschland zuträglich oder
nicht?
Wie diese Diskussion
ausging, war täglich auf VIVA zu sehen: Der
Rammstein-Clip lief rauf und
runter.
Trotzdem geht die Diskussion
weiter - Rammstein ist für mich zunächst
einmal eine sehr, sehr typische Transformation
einer Ost-Band in den deutschen Markt einer
"Berliner Republik". Mit allen Marketing-Wassern
gewaschen, aber trotzdem sehr ehrlich
bezüglich ihrer Herkunft. Ein paar Menschen
springen da schon noch entrüstet auf. Aber im
Vergleich zu dem, was man im tagtäglich im
Fernsehen sehen kann, ist das doch
harmlos.
Zu dem Riefenstahl-Video gab
es - vor allem im Ausland - sehr kritische Stimmen
zu hören.
Ich glaube aber nicht,
daß dies von den Jugendlichen in einem
Nazi-Kontext gesehen wird. Ästhetisch steht
das für sie so weit daneben, daß sie es
einfach anschauen, ohne daraus eine politische
Haltung abzuleiten. Wir haben diese Verantwortung
und diese Vergangenheit. Aber wir haben am Ende -
und da werde ich jetzt sicher wieder
mißverstanden - weniger Probleme mit
tatsächlich meßbarer
Rechtsradikalität als andere europäische
Länder. Das Gute an unserer Vergangenheit ist,
daß sie uns ungeheuer hellhörig macht.
Und aufpassen müssen wir auch
weiterhin.
Dafür finden jetzt
alle, daß es Kult ist, wenn Verona Feldbusch
im tief ausgeschnittenen Kleidchen vor der Kamera
herumstammelt.
Sie war halt an der richtigen
Stelle auf der richtigen Welle. Das ist Trash,
Comedy. Das kommt und geht. Das ist so wie es ist,
taugt aber nicht als ein in die Tiefe
interpretierbarer Indikator für den momentanen
gesellschaftlichen Zustand. Dafür ist das
letztlich doch viel zu belanglos. Allerdings zeigt
der Comedy-Boom, daß es wohl auch in diesem
Bereich es einen Nachholbedarf für eigen
gemachtes, also nicht synchronisiertes, Fernsehen
gegeben hat, über das man auch lachen kann.
Trash scheint zumindest
nicht bis in die Tiefen der deutschen
Geldbörsen zu reichen - sonst hätte
Guildo Horn deutlich mehr Platten verkaufen
müssen.
Klar - das war ja auch nur ein
Hype. Jetzt kehrt Horn wieder zurück in die
Szene, aus der er kam und freut sich über
einen prozentualen Zuwachs, den er ohne diesen Hype
nie bekommen hätte. Ich kann mir aber nicht
vorstellen, daß er selbst ernsthaft daran
geglaubt hat, zu einer echten Keimzelle eines neuen
bundesrepublikanischen Stils werden zu können.
Klar, wenn ich jetzt zum Beispiel den Fernseher
lauter mache (greift sich die Fernbedienung und
dreht den neuen VIVA-Clip von Alanis Morissette
auf), merke ich sofort: Donnerwetter, tolle Songs,
neues Album, möchte ich hören. Bei Guildo
Horn dagegen ist es wie mit dem T-Shirt, das ich
nach einem Konzert kaufen könnte. Könnte
ich, muß ich aber nicht, weil es mir
vielleicht zu teuer ist. Die Horn-Platte kann ich
nach dem Ereignis - dem Grand Prix - auch kaufen,
muß ich aber nicht. Ähnlich funktioniert
das mit den Soundtracks. Daß die sich immer
besser verkaufen, liegt einfach daran, daß
sie gute Musik bieten und nicht mehr wie
früher aus beliebig zusammengewürfeltem
Backkatalog bestehen.
Darin zeigt sich, daß
die Konsumenten noch immer viel zu sehr
unterschätzt werden.
Auch die Kids werden ja dauernd
unterschätzt. Man glaubt, sie sind eine
unpolitische, beliebig manipulierbare amorphe
Masse, die sich ständig von irgendwelchen
hippen Marketingexperten völlig neu
durchkneten läßt. Das ist Quatsch - die
wissen meistens schon ganz genau, was sie wollen
und warum sie das wollen. Wenn die andere Seite das
wüßte, dann gebe es ja nur noch
Hits.
Alle reden zum Beispiel
davon, daß es völlig out ist,
Gefühle zu zeigen. Und dann rennen Millionen
in einen Schmachtfetzen wie
"Titanic".
Klar - das ist ein Produkt, das
die Leute bewegt. Eine Liebesgeschichte, wie es sie
im echten Leben nicht geben kann, denn dort sind
Liebesbeziehungen nicht ganz so spektakulär.
Aber dafür gibt es ja auch das Kino.
Vielleicht ist das ja auch eine Altersfrage - meine
Tochter war in dem Film und konnte gar nicht
verstehen, daß meine Frau hinterher gesagt
hat: "Na hör mal - wer wird sich denn in einen
Zwölfjährigen verlieben?"
Noch dazu in so einen
kantenlosen Milchbubi wie Leonardo
DiCaprio?
Na und? Der paßt aber
doch für die Zielgruppe. Leonardo ist eine Art
filmgewordener Backstreet Boy.
Ich dachte, Boygroups sind
ausgestorben?
Ja, das ebbt ab. Aber
Teenie-Idole wird es immer geben. Es wird immer
Musik geben, die den ersten Schritt der Teenager
aus der Pubertät in die Sexualität hinein
erleichtert. Wie ein Teddybär - in den kann
ich mich ohne Konsequenzen verknallen. Das ist nie
Aerosmith, immer so etwas wie die Backstreet Boys.
Allenfalls noch ein bißchen Robbie Williams,
wobei der jetzt schon etwas düsterer ist. Der
leckt mit der Zunge - igittigitt! Auch Natalie
Imbruglia paßt in diesen Kontext. Ein
süßes Mädchen mit guten Songs - in
die kann man sich als Junge bedenkenlos
verlieben.
Die Teenie-Presse hat
auflagentechnisch sehr unter dem Boygroup-Sterben
gelitten.
Bei der BRAVO ist der
Kaufimpuls auch direkt von den Typen auf dem Cover
abhängig. VIVA hat es leichter. Wir
können zum Beispiel Gruppen wie Mr. President
spielen, aber BRAVO hat damit ein Problem, weil die
Leute in diesen Gruppen alle gleich aussehen. Und
Videos sind letztendlich interessanter als das
immer gleiche Foto der immer gleichen
Boygroup-Konstruktion.
Hat Dieter Gorny geweint,
als sich Tic Tac Toe oder die Spice Girls
auflösten?
Nee, warum? Es ist vielleicht
Geschmackssache, aber ich denke, es wäre von
der Kreativität her bestimmt schlimmer, wenn
sich andere Gruppen auflösen würden -
R.E.M., U2 oder Die Ärzte zum Beispiel.
Oder Falco?
Das war auf jeden Fall ein
tragischer Verlust. Ich kannte ihn ja recht gut und
finde es auch tragisch, wie er jetzt, nach seinem
Tod, wieder richtig erfolgreich wird. Er war ein
Pop-Star par excellence, in seiner Exzentrik ein
absolutes Unikat.
Und in seiner
Exzessivität. Immerhin scheint 1998 die
Heroinwelle wieder etwas abgeebbt zu
sein.
Rauschmittel - ob erlaubte wie
Alkohol oder verbotene wie Heroin - sind immer
Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Ich denke
aber, es ist ein gutes Zeichen, daß nicht
mehr so selbstverständlich damit herumhantiert
wird. Ganz schlimm war es ja auf den Laufstegen,
mit all den Heroin-Chic-Models. Hinter all dem
steckt etwas, das ich für eine der schlimmsten
Sachen überhaupt halte -
Abhängigkeit.
Auch Courtney Love hat die
Nadel mit dem Collier vertauscht.
In diesem Business zählt
ja nicht, was du bist, sondern das, was du zu sein
scheinst. Man macht aus bestimmten Gründen
einen bestimmten Schwenk in eine andere Richtung
und fängt plötzlich an, auf eine
bestimmte Art ganz professionell zu arbeiten. Da
geht es doch nicht um Authentizität. Es
spricht vielleicht eher für das Talent dieser
Frau, diesen Schwenk so wasserdicht darzustellen -
und für die Branche, die das so begierig
auflutscht. Was immer das bedeuten mag.
Es mangelt andererseits auch
hierzulande nicht an kreativen
Künstlern.
Das glaube ich auch. Wir haben
so viel Kreativität im Land. Dort, wo Breite
entsteht, entsteht auch Spitze. Die Frage ist nur,
warum sie sich nicht so entfalten kann.
Warum denn?
Das hat viel mit
Zentralisierung zu tun. Ein Handel, in dem der
Mittelstand keine Rolle mehr spielt, eine
Radiolandschaft, in der Eigenständigkeit keine
Rolle mehr spielt.
Sind wir
Globalisierungsopfer?
Nein. Ich sehe im Gegenteil,
daß die Produkte immer stärker auf die
national-emotionale Grundhaltungen zugeschnitten
werden. In der Musik genau so wie beim Fernsehen
mit seinem drastisch gesteigerten Anteil nationaler
Produktionen.
Vielleicht werden einfach zu
viele Platten veröffentlicht?
Das stimmt zum Teil schon. Der
Markt wird mit Produkten regelrecht zugeschissen.
Ich kann ja auch nicht zu Aldi gehen und fordern,
daß sie neben den drei dort verkauften
Mehlsorten auch noch meine vier Sorten
zusätzlich anbieten - Dreikorn, Sechskorn,
Siebenkorn, graues, weißes und noch
weißeres Mehl. Herr Albrecht wird mir zu
Recht sagen: "Hau ab!"
Dieter Gorny gehört zu
der Generation der Best Ager. Was hört er
daheim?
Querbeet. Im Moment viel U2,
weil ich die Band mag. Von Madonnas neuer Platte
war ich völlig überrascht. Guano Apes
begeistern mich, auf die neue Metallica warte ich
mit Spannung. Ich finde, daß Public Enemy
auch nicht mehr so laut sind wie früher, und
ab und zu gehe ich auch mal in die Oper. Ich nehme
für mich heraus, rein emotional mit Musik
umzugehen. In diesem Sinne bin ich so eine Art
autonomer Musterkonsument. Ich mag es genau so,
wenn die Boxen dröhnen, wie auch Musik, die
sophisticated ist. Ich mag Klassik, Schmalz, Bon
Jovi bis Anthrax. Ich höre, was ich
will.
Was wird er nächste
große Trend am Ende des
Jahrtausends?
Was weiß ich? Der
Marketing-Gorny sagt: "VIVA Zwei". Der Gorny-Gorny
sagt: "Wir werden wohl noch eine Zeit lang damit
leben müssen, daß es die großen
Trends nicht mehr gibt." Unsere Gesellschaft wird
zwar als Mainstream tituliert, ist aber längst
nicht mehr dieser kalkulierbare Mainstream. Wir
haben noch nie in einer Epoche gelebt, in der wir
einen derart demokratischen Zugriff auf jegliche
Information hatten, wie heute. Schau dir die Mode
an: Wo ist der nächste große Modetrend?
Es ist doch ein klares Zeichen, daß dir das
keiner sagen kann. Das trifft doch nur die Teens,
die gerade erwachsen werden. Die sind
natürlich anders, die schnüren sich in
enge Klamotten ein. Für die anderen gibt es
alles mögliche parallel. Ich muß in der
letzten Zeit ja öfters mal Krawatte tragen und
habe gesehen, daß es zwar viele verschiedene
Hemdkragen-Arten gibt, die aber alle in einem klar
eingegrenzten Range bleiben. Die Opinon Leader
tragen jetzt vielleicht wieder Krägen, die ein
kleines bißchen spitzer sind, dann gibt es
den sportlichen Typ, der immer button down tragen
wird, Leute, die alle Polo tragen, die
Kent-Kragenträger, aber alle sind sich
ziemlich ähnlich. Natürlich gibt es ein
paar Leute, die wieder engere Anzüge tragen,
oder kleinere Gruppen, die 80er Jahre-Sachen
kaufen, aber diese großen, allumfassenden
Modetrends wie früher gibt es nicht mehr. Die
Leute sagen jetzt: "Eyh - ich bin 45 und zieh' so
einen Scheiß doch nicht an! Ich möchte
bequeme Klamotten." Und schon schiebt der
Modemacher eine bequeme Linie ein. Diese Chance der
Individualität ist gleichzeitig die Tragik,
keine großen Trends mehr zu
haben.
Peter von Stahl
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