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Feature in der Financial Times Deutschland 17.05.2004

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Pop-Giganten wie Griechenland, Montenegro oder Zypern verweisen Deutschland beim 49. European Song Contest in Istanbul auf den achten Platz

Karpaten-Shakira schlägt den Minimax

Von Peter Wagner, Hamburg

 

Welch Balsam für das gebeutelte Land im Osten! Ruhm und Ehre der Schwarzmeerflotte - verrosten im Brackhafen von Sewastopol. Die Hälfte der einst unbezwingbaren Klitschko-Brüder - Naseblutend auf dem Ringboden. Und auch sonst liest man von der Ukraine höchstens dann mal was in der Zeitung, wenn Landsmann Borys Barktiv für knapp fünf Jahre in den deutschen Knast muss, weil er lebensfrohen Promis wie Michel Friedmann ein paar junge Ukrainerinnen als Zugabe zum Koks-Haufen ins Hotel geliefert hat. Und jetzt? Ja, jetzt tanzte Ruslana Lyzhichko und ihre wilde Truppe nicht nur den Eurovisionsbühnenglasboden (bei den Proben zum Halbfinale Anfang letzter Woche) in Stücke und Scherben -das halbnackte Kosakengehüpfe erwies sich gar als mehrheitsfähig im Europa, das beim „Song Contest" als vorweg genommener Endausbau der EU mit 36 Staaten beim Gastgeber Türkei aufgelaufen war. Schon das Halbfinale ließ ahnen, dass eine Nummer nach ganz oben durchmarschieren kann, wenn sie nur clever geklaut ist („Wild Boys" von Duran Duran war die Blaupause), dabei aber statt Europop-Einheitsbrei noch genügend Karpaten-Karma transportiert, die Akteure den reicheren Eurovisionsgebührengeberländern zeigen, dass man auch mit wenig was Hübsches zaubern kann (Kostüme aus Lederresten) - und vornedran eine gelenkige Tänzersängerin turnt, die als erste Akteurin im Sendverlauf (Startplatz 10!) beim Kleiderkauf unterhalb von Konfektionsgröße 40-42 auswählen kann. Sowas knallt die Konkurrenz locker weg. Deutschlands Max Mutzke tat, was man als aufrechter aber auf die hinteren Plätze verdrängter Wettsänger im Oberschulalter tun muss: er rief erst mal seine Eltern im Schwarzwälder Krenkingen an und ließ sich trösten. Eine halbe Stunde später gestand der junge Recke per Videozuspielung den trotzdem munter feiernden Hamburgern auf dem Spielbudenplatz (und der lustig bedruckten Leberwurst auf der Bühne, die Pop-Kenner als den Ex-Bohlen-Partner Thomas Anders wiedererkannten), dass er sich an den achten Platz „erst gewöhnen" müsse. Recht hat er. Schließlich hatten ihn wochenlang alle deutschen Medien im Einklang mit seinem väterlichen Karrierekonstrukteur Stefan Raab zum Supermax hochgejazzt, der nun von so gigantischen Pop-Nationen wie Zypern, Serbien/Montenegro oder Albanien auf sein künstlerisches Normalmaß zurückgestutzt wurde - der Minimax, der uns immer wieder dieses eine Lied singt, das er kennt. Dabei war Max einer der wenigen Akteure des Abends, die ihre Stimme nicht in der Garderobe vergessen hatten. Neben der Schwedin Lena Philipsson musste sich Max gesanglich eigentlich nur Lisa Andreas geschlagen geben, die auf Zypern offenbar ein kleines Nagelstudio betreibt: zum Glück waren ihre 5-Zentimeter-Krallen im eckigen French-Style manikürt - das vermindert das Verletzungsrisiko beim Nasebohren. Tief in sich hinein gegangen schien auch Zeljko Joksimovic zu sein. Gefunden hat der Vertreter Serbiens/Montenegro dabei immerhin serbische Hirtenflöten und Pinneberger Dorfdiscobeats. Im Laufe seiner Darbietung irrten immer mehr junge Serben mit Ethno-Instrumenten auf die Bühne, doch und weit und breit waren keine KFOR-Truppen in Sicht, die diese Nummer hätten retten können. Mussten sie auch nicht, denn mit Hilfe der reibungslos funktionierenden Balkanpunkteschacherei holten sich Bosien-Herzegowina, Albanien und Serbien Top-Ten-Platzierungen, die mit der Qualität der Songs und der Auftritte nicht hinlänglich erklärbar sind. Ein heißer Favorit dagegen war von Anfang an Griechenland. Aus dem italienisch geprägten Korfu landete mit Sakis Rouvas ein schnuckeliger Schmalspur-Christopher-Lambert auf dem dritten Platz, dessen „Shake It" noch so manche Weight-Watcher-Disco am ionischen Strand von Kerkyra zutiefst erschüttern wird. Trost für Max gab es dennoch reichlich: Ralf Siegels maltesische Mini-Oper, vorgetragen von einem vollfleischigen Nummerngirl mit Butox-Breitmaulfroschgrinsen und einem kleinen Mann, den sie kurz zuvor aus einem Haargeltopf gerettet hatte, landete hinter Deutschland auf dem zwölften Platz. Auch klassische Eurovisionsgroßmächte wie Großbritanniens James Fox (von dem bestens gelaunt lästernden NDR-Moderator Peter Urban zu Recht mit „Gerhard Delling" verwechselt), Niederlande, Norwegen und Irland fanden sich auf verlorenen Plätzen wieder. Schön , dass man sogar was lernen konnte an diesem mit über fünf Stunden doch etwas überlangen Fernsehabend. Zum Beispiel, dass sich auch junge Türken (Ska-Truppe Athena, Platz 4) die Achseln rasieren. Oder dass unsere Indianerfaschingskostüme aus den 60er Jahren über den Umweg von Altkleidercontainern der Arbeiterwohlfahrt inzwischen wohlbehalten im Land der Skipetaren gelandet sind (Anjeza Shahini, für Albanien auf Platz 7). Oder dass die „Öffnung des Ostens" (Urban) zwar bei der Damenbekleidung angekommen ist (Polen, Russland, Rumänien), weniger jedoch bei der Sanges- und Kompositionskunst der Teilnehmer. Oder diese Sache mit der Türkei und Europa. Die Moderatoren Meltem Cumbul und Korhan Abay schienen direkt aus der türkischen „Müppüts"-Show entführt worden zu sein. Wir lernen: die Türkei ist in Europa angekommen. Im Europa der 60er Jahre. Wunderschön bebildert von den Tanzeinlagen während der Abstimmungspause: die Zuckerpuppen von den Bauchtanztruppen. Versöhnlich stimmte am Ende, dass auf einige alte Seilschaften doch noch Verlass ist: Big Points bekam Max von Österreich und der Schweiz (10 Punkte) und Portugal (8). Das viel beschworene „Germany Twelve Points" jedoch blieb Wunschdenken. Volle Pulle kam nur aus Spanien. Von den deutschen Sonnenrentnern mit spanischen Handy-Verträgen.

© copyright 2004 Peter Wagner, alle Rechte vorbehalten