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Feature in der Financial Times Deutschland 22.03.2004

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Max gewinnt die Vorausscheidung des „European Song Contest" ohne was zu sehen

Augen zu und durch

Von Peter Wagner, Hamburg

 

Wer hören will muss fühlen. Wer fühlen will muss singen. Wer mit vollem Gefühl singen will muss ganz bei sich sein. Und weil das ziemlich schwer ist, wenn einem 6.000 schreiende Fans in der Halle und weitere 5,5 Millionen Fern-Seher dabei zusehen, schaut man am besten gar nicht hin. Deshalb singt der 22jährige Abendschüler Maximilian Mutzke aus dem Südschwarzwald seine Soul-Ballade „Can't Wait Until Tonight" vorsichtshalber mit geschlossenen Augen. Publikumswirksam ist das nicht gerade, aber „Max", wie er seit ein paar Wochen von der Pop-Nation genannt wird, hat andere Qualitäten: er singt wie ein Schwarzer, wie ein Affären-gestählter Lebemann im besten Alter, wie einer, bei dem sich hinterher alle fragen, wie man mit so einer Durchschitts-Fresse so viele Weiber abkriegen kann. Kurz: eigentlich wie Lionel Richie, der den TV-Abend backstage begleitet, singen können müsste, wäre er nicht als kleiner Junge in ein Fass mit Schlagersoulschleim gefallen. Immerhin - Maximilian hat sich gerade gegen neun Konkurrenten durchgesetzt hat, von denen zumindest dreieinhalb mit ihren Beiträgen um Galaxien besser aussahen als alle Grand-Prix-Dilletanten der letzten sechs Jahre zusammen.

Längst vom französischen Chanson-Ursprung zum internationaler klingenden „European Song Contest" modernisiert, schaffte es die Show mit der deutschen Vorentscheidung in diesem Jahr zum ersten Mal, sich vollständig vom Lena-Valaitis-Muff der letzten 1000 Schlagerjahre der Marke „Goldkettchen-Ralf" (Künstlername: Ralf Siegel) zu befreien. Mitmachen durfte nun, wer vorher schon auf VIVA oder in den Charts Erfolg hatte. Die letzten Renovierungsversuche, mit Hilfe von Comedy-Witzfiguren wie Guildo Horn, Zlatko oder Mosi waren gründlich in die Hose gegangen, den 12. Platz mit Lous „Let's Get Happy" 2003 konnte sich Siegel noch nicht mal mit Dom Perignon schön saufen. Schlager am Ende, Deutschland von Island und Rumänien geschlagen, Einschaltquoten am Boden - der Grand Prix schien kurz davor, im Dienstagnachmittagsprogramm beim MDR zu landen.

Inzwischen stimmen die Quoten wieder: 28 Prozent der werbewertigen Gruppe von 14-49 Jahren sahen Freitag abend ARD. Weitaus wichtiger aber der Image-Gewinn für das Format an sich. Es roch nach Teen Spirit: NDR-Oldie Peter Urban, an der Seite von Lionel Richie murmelnder Backstage-Kommentar-Opi, erklärt dem sich recht wacker schlagenden Moderator Jörg Pilawa schon auf die erste Frage: „Wir stehen da wie die Alten aus der Muppet-Show." Pilawas bessere (in jederlei Hinsicht) Hälfte Sarah Kuttner, hauptberuflich VIVA-Moderatorin mit Potsdamer Großstadt-Gosche, setzt noch einen drauf. Sie, den sie jeden anderen im Saal dutzt, sagt: „Herr Urban, wissen Sie eigentlich...".

Generell aber gewann der Abend vor allem durch die Musik und die Künstler, die erstmals seit den ganz großen Zeiten des deutschen Schlagers, als Udo Jürgens noch nahezu gleichaltrigen Wesen des anderen Geschlechtes nachstellte, die diese Grand-Prix-Show sehenswert machten. Einmal Pop und zurück, es gab nur Gewinner: Das Schweizer Möchtegern-„Boss"-Model Patrick Nuo gewann den David-Cassidy-Lookalike-Contest und zugleich den Award für den blödesten Spruch des Abends („Ich hab' Schokolade im Blut"), Sängerin Mieze von den Berliner Elektro-Punkern Mia kämpfte gegen ihre Angina-geschwächten Stimmbänder und gegen das Vorurteil, Petticoats seien keine angemessene Abendgarderobe. Mieze fährt nicht zum Finale am 15. Mai nach Istambul, weil sie nur den zweiten Kampf gewann. Sabrina Setlur zeigte in einer Video-Einspielung all das, was zuvor nur Boris Becker sehen durfte, langweilte dann aber trotz Glashaus-Chor mit einer Gähn-Nummer. Ihre Zeit ist vorbei, ebenso wie die der gecasteten Boygroups: Die „Popstars"-Gewinner Overground wirkten wie um drei Jahre zu spät kommende Justin-Timberlake-Klone im Krankenpfleger-Look. Müde auch Wonderwall und Tina Frank. Die Ex-Hintergrundsängerin von Oli.P. kam als Relikt der Grand Prix Oldschool: ältlich, schlecht angezogen, dünne Stimme. „Ich schenk Dir mein Herz" sang sie. Aber wer mag schon noch Innereien, heutztage?

Richtig stark dagegen die Auftritte von Laith Al Deen und DJ Westbam. Wenn es um den besten Pop-Songs des Abends gegangen wäre - Al Deens „Höher" hätte gewonnen. So wie "Dancing With The Rebels" vom Elektro-Urvater Westbam zusammen mit dem Rapper Afrika Islam den Preis für die beste Performance gebührt hätte. Angefeuert von einem völlig ausrastenden Benjamin v. Stuckrad-Barre im Publikum wird das Duo von „Bereitschaftspolizisten" auf die Bühne geführt, die dann eine zünftige Polizeisportchoreographie aufführen. Westbam: „Das ist ein Protestlied gegen die Choreographierung der Gesellschaft".

Scooters „Jigga Jigga" ist dagegen eher ein Protestlied gegen sich selbst: Sänger H.P. Baxter grinst aus allen Vorstadt-Poren, als das Trio neben Max in die Endrunde kommt. Doch hatten in der ersten Runde bereits über 60 Prozent der Zuschauer per 49-Cent-Call oder -SMS für Max, aber nur sieben Prozent für Scooter gestimmt hatten. Letztlich erwies sich der Tornesch-Techno „Jigga" samt zweier recht preisbewußt gekleideter SM-Schnitten und jeder Menge Pyro-Pomp als nicht mehrheitsfähig, so dass Baxter und Konsorten nun doch nicht - wie ihr Testimonial Helge Schneider unkte - „nach Istambul müssen."

And The Winner Is...nein, natürlich nicht Max, sondern sein Ziehvater Stefan Raab. Max wurde gecastet in der Raab-Show „TV total", live begleitet von der Stefan-Raab-Band, hinter der Bühne gecoacht vom Raab-Team, Musik und Text des Siegertitels geschrieben von Stefan Raab, produziert von...jaja. Raab ist damit seinem Lebensziel wieder einen kleinen Schritt näher gekommen: 1998 mit „Guildo hat Euch lieb" einen siebten Platz erkomponiert, 2000 mit „Wadda hadde dudde da" Platz vier ersungen - und nun mit der Jahrhundertstimme Max und dem tränentreibenden Soul-Schmuser „Can't Wait Until Tonight" das erste Mal echte Chancen auf „Germany 12 Points". Aber nur, wenn Maximilian noch eine kleine Regel lernt: Beim Autofahren und auf der Bühne - Augen auf!

 

 

 

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