Feature in der Financial Times Deutschland 14.03.2005

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Die deutsche Vorentscheidung zum European Song Contest 2004

Germany 12 Points? No, Gracia!

Von Peter Wagner, Hamburg

Nena singt in Kiew beim Song Contest 2005 für Deutschland. Das würde sie zumindest, wenn das Volk die freie Wahl gehabt hätte, denn Nena ist mit ihrem Nummer-Eins-Hit „Liebe ist" im Moment Deutschlands erfolgreichste Sängerin. Sie selbst war am Samstag in der ARD-Vorausscheidung „Germany 12 Points" auch deshalb nicht vertreten, weil sie „den Wettbewerb total uncool" findet. Mit der Meinung steht sie nicht allein im Lande: abermals brach dem ausrichtenden NDR und seinem Unterhaltungschef Jürgen Meier-Beer trotz eines charmant-kompetenten Reinhold Beckmann als Moderator die Quote weg. Noch eine Woche zuvor grübelte Meier-Beer im Fachblatt „Musikwoche" über Stefan Raabs inoffizielle Konkurrenzveranstaltung „Bundesvision": „Wenn wir weniger als die 3,23 Millionen Zuschauer von der Bundesvision bekommen, sind wir blamiert". Knapp daneben (3,56 Mio.) ist auch vorbei -zwei Millionen Zuschauer weniger als 2004 gähnten sich durch den zähen Kessel Buntes, bei dem wieder einmal nicht die Kandidaten, sondern Gast-Stars wie Patricia Kaas oder Al Di Meola mit dem Russen Leonid Agutin künstlerische Glanzlichter setzten.

„Bundesvision" vs. „Germany 12 Points" -das ist zugleich auch ein Kräftemessen zweier Parallelwelten des deutschen Pop. Raab zeigt mit aktuell hocherfolgreichen Künstlern wie der Siegerband Juli, auf welch hohem künstlerischen wie kommerziellen Niveau der Teutonen-Pop heute steht. Maier-Beer dagegen hält mit seiner B-Mannschaft aus verkannten Provinzbands, trällernden Castingshow-Fünftplatzierten und dem wackeren Minderheitenhäuflein von Best-Agern (Gwildis), Lesben (Villaine) und Sekten-Aussteigern (Murphy Brothers) dem deutschen Pop-Publikum den Spiegel vors Gesicht. Seht her, das seid Ihr, unteres europäisches Mittelmaß in allen PISA-Fächern, und Eure strahlende Songwettstreitsvorauscheidungsgewinnerin wird beim Finale auch diesmal wieder auf die hintersten Plätze weggedrückt von Pop-Supermächten wie Moldawien. Oder Estland. Oder Tschetschukien.

Fast wäre alles noch viel schlimmer gekommen, denn um Haaresbreite nur verlor das Duo Nicole Süßmilch & Marko Matias, mit dessen Song „A Miracle Of Love" sich der Schlager-Untote Ralph Siegel unter falschem Namen in den Wettbewerb geschmuggelt hatte. Das Liedchen hätte in Kiew alle Chancen gehabt, zum Globalisierungsverlierer des Jahres auf Platz 18 gewählt zu werden -schmieriges Siegel-Gesuse mit einem Text, der vor allem die Ex-Kolleginnen der DSDS-2002-Verliererin Süßmilch zum monatelangen Nachdenken bewegen wird -„Ich hab früher viel im Kosmetikbereich gearbeitet."

Germany 12 Points? Nie und nimmer, solange nur die zweite und dritte Mannschaft beim Rennen ans Steuer darf. Ellen ten Damme zum Beispiel. Noch eine der professionellsten Perfomerinnen -wäre da nicht ihr Musenküsser Udo Lindenberg. Anti-Kriegs-Knoten in die Knarre und dann die kleine Frau Holle poppen. Ellen lass jucken. „Plattgeliebt" verrutscht ihr peinlich berechnet zu „Plattgefickt". „Plattgelindit" wäre korrekter Udo greift zum vorletzten Mittel und zieht kurz die Brille ab. Gottseidank behält er den Hut auf.

Munter geht's weiter mit Orange Blue. Die hatten wenigstens schon mal einen Hit. Vor ein paar Jahren. Heute verschnulzen sie vollends in ihrem Heulsusenozean. Diese Träne geht nicht auf Reisen. Auch Frau Königwerq mit ihrem hochschwangeren Mannheimer Schnappi-Pop ist alles andere als „Unschlagbar". Die Tochter Mannheims bleibt als lebender Beweis dafür in Erinnerung, dass Frauen schon vor der Geburt Tausende Hirnzellen verlieren können. Noch provinzieller gefällig? Kein Problem bei Allee der Kosmonauten. Bibel statt Bier. Jürgen Fürwitt hat angeblich früher „Hotelzimmer zertrümmert". Und jetzt? Grienender Kirchentagspathos mit Naidoo-Melodie und Pur-Musik. Sie gehen mit Gott überall hin. Nur nicht nach Kiew. Auch der Geriatrie-Groover Stefan Gwildis und die Schweizer Quietschmaus Mia Aegerter bleiben hier.

In die Ukraine reisen darf die per Wildcard zum Vorentscheid qualifizierte Gracia Baur mit dem wegen seiner Dynamik halbwegs erträglichen Song „Run & Hide". Gracia freute sich denn auch dermaßen echt über ihren Sieg, dass ihr Oberteil durch einen technischen Defekt beinahe ein kleines deutsches Nipplegate verursacht hätte. Eine gute Übung angesichts der in diesen Dingen deutlich unzimperlicheren Nackthautkonkurrenz bei der zu erwartenden paneuropäischen Fleischbeschau in Kiew.

 

 

 

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