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Mariah Carey, 10.10.2003, HH,
Color Line Arena
Holiday ohne
Ice
Von Peter Wagner,
Hamburg
Vorsicht
Volksnähe: Nachdem die Sechstausend Freunde
keimfreier Popmusik mittels Projektion eines rasant
geschnittenen Best-Of-Videos eigentlich schon auf
einen Abend aus der Reihe Ein Kessel Buntes"
eingeschworen waren, marschiert die Protagonistin
plötzlich gladiatorenhaft mitten durch die
Zuschauer zur Bühne. Ein Bad in der Menge wird
es dennoch nicht, das verhindern schon die acht
flankierenden Personenschützer. Zum Trost
schwingt dafür der Vorhang zur Seite und
lässt die Opernsängerinnen-Tochter aus
Long Island auf Schwindel erregend hohen
Absätzen in eine Kulisse stacksen, die mit
schwerem Samtgestühl und Brokat-Vorhängen
auch schlichten Gemütern sofort das Motto des
Abends visualisiert - Moulin Rouge.
Mariah Carey, nach
mehreren spektakulären Plattenfirmenwechseln
und diversen Nervenzusammenbrüchen auf dem Weg
zu einem neuen Selbstbewusstsein, zeigt in der Wahl
ihrer Arbeitskleidung neben der Kunst des gekonnten
Weglassens auch echten Eigenwillen: Dort, wo die
Beine bei einer Frau oben aufhören, muss bei
ihr noch lange kein Stoff beginnen. Ein Umstand
mehr, der an diesem Konzertabend für ein
bisschen Verwirrung sorgen kann. Schließlich
gastierte in der Hamburger Mehrzweckarena nur ein
paar Tage zuvor die Kufenrevue Holiday On
Ice" - und nicht nur Mariah Careys Glitzermieder
sahen so aus, als hätte sich Rudolph
Mooshammer an ein paar Eislauf-Hungerhäkchen
dafür rächen wollen, dass er in der
Schule von den Mädchen immer gehänselt
wurde. Auch Careys Bühnendekoration von
Paris-Puff über Zirkus bis Marionettenspiel
hätte gut und gern aus einem Truck stammen
können, den die Eiskunst-Show versehentlich in
Hamburg stehen gelassen hat.
Bei allen
Gemeinsamkeiten sind es dann aber doch Welten, die
die beiden Shows trennen. Allen voran Mariahs
Stimme, von deren angeblichen fünf Oktaven
Umfang sie zwar allenfalls zweieinhalb nutzt, die
aber nach wie vor allein schon einen guten Abend
tragen könnte. Wären da nicht -und das
ist der zweite Unterschied - die elend
häufigen und langen Verschnaufpausen, die
Carey immer dann einlegen muss, wenn das Konzert
gerade ein wenig in Fahrt kommt. Schon bei
Through The Rain", dem dritten Song, sitzt sie auf
einem Plüschsessel, und spätestens wenn
sie sich eine knappe Stunde später nach
etlichen weiteren Sitzeinlagen und diversen
Video-Unterbrechungen lasziv auf dem Klavier
räkelt, wird klar - das ist keine
Choreographie, das ist pure
Überlebensstrategie angesichts eines durch
diverse Nervenmedikamente notdürftig wieder
aufgerichteten, mit zehn Millionen Dollar teuer
versicherten und von diversen gesegneten
Chirurgenhänden grandios retouchierten
Luxuskörpers. Auch dies ein generelles Manko
von Careys Darbietung: Sie zeigt zwar, dass man
unter dem Einfluss von Anti-Depressiva noch
halbwegs anständig singen kann. Andererseits
agiert Mariah in jenen knapp 45 von gut 100 Minuten
Gesamtzeit, in denen sie mit Gesang und Tanz die
Aufmerksamkeit des Publikums auf sich selbst
fokussiert anstatt sich hinter der Bühne
während der Solos ihrer Tänzer und
Musiker oder den diversen Konserveneinspielungen zu
erholen, auch so, als sei sogar der kleine
Gefühlsrest, der bei solchen
Las-Vegas-Showproduktionen üblicherweise
erlaubt ist, in Watte eingepackt. Vielleicht hat
die Diva genau deshalb trotz 150 Millionen
verkaufter Platten noch keinen Boyfriend -sogar ein
Abend mit Durex gefühlsecht" lockt mit
mehr unmittelbarer Emotion.
© copyright
2003 Peter Wagner, alle Rechte
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