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Review in der Financial Times Deutschland 13.10.2003

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Mariah Carey, 10.10.2003, HH, Color Line Arena

Holiday ohne Ice

Von Peter Wagner, Hamburg

Vorsicht Volksnähe: Nachdem die Sechstausend Freunde keimfreier Popmusik mittels Projektion eines rasant geschnittenen Best-Of-Videos eigentlich schon auf einen Abend aus der Reihe „Ein Kessel Buntes" eingeschworen waren, marschiert die Protagonistin plötzlich gladiatorenhaft mitten durch die Zuschauer zur Bühne. Ein Bad in der Menge wird es dennoch nicht, das verhindern schon die acht flankierenden Personenschützer. Zum Trost schwingt dafür der Vorhang zur Seite und lässt die Opernsängerinnen-Tochter aus Long Island auf Schwindel erregend hohen Absätzen in eine Kulisse stacksen, die mit schwerem Samtgestühl und Brokat-Vorhängen auch schlichten Gemütern sofort das Motto des Abends visualisiert - Moulin Rouge.

Mariah Carey, nach mehreren spektakulären Plattenfirmenwechseln und diversen Nervenzusammenbrüchen auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein, zeigt in der Wahl ihrer Arbeitskleidung neben der Kunst des gekonnten Weglassens auch echten Eigenwillen: Dort, wo die Beine bei einer Frau oben aufhören, muss bei ihr noch lange kein Stoff beginnen. Ein Umstand mehr, der an diesem Konzertabend für ein bisschen Verwirrung sorgen kann. Schließlich gastierte in der Hamburger Mehrzweckarena nur ein paar Tage zuvor die Kufenrevue „Holiday On Ice" - und nicht nur Mariah Careys Glitzermieder sahen so aus, als hätte sich Rudolph Mooshammer an ein paar Eislauf-Hungerhäkchen dafür rächen wollen, dass er in der Schule von den Mädchen immer gehänselt wurde. Auch Careys Bühnendekoration von Paris-Puff über Zirkus bis Marionettenspiel hätte gut und gern aus einem Truck stammen können, den die Eiskunst-Show versehentlich in Hamburg stehen gelassen hat.

Bei allen Gemeinsamkeiten sind es dann aber doch Welten, die die beiden Shows trennen. Allen voran Mariahs Stimme, von deren angeblichen fünf Oktaven Umfang sie zwar allenfalls zweieinhalb nutzt, die aber nach wie vor allein schon einen guten Abend tragen könnte. Wären da nicht -und das ist der zweite Unterschied - die elend häufigen und langen Verschnaufpausen, die Carey immer dann einlegen muss, wenn das Konzert gerade ein wenig in Fahrt kommt. Schon bei „ Through The Rain", dem dritten Song, sitzt sie auf einem Plüschsessel, und spätestens wenn sie sich eine knappe Stunde später nach etlichen weiteren Sitzeinlagen und diversen Video-Unterbrechungen lasziv auf dem Klavier räkelt, wird klar - das ist keine Choreographie, das ist pure Überlebensstrategie angesichts eines durch diverse Nervenmedikamente notdürftig wieder aufgerichteten, mit zehn Millionen Dollar teuer versicherten und von diversen gesegneten Chirurgenhänden grandios retouchierten Luxuskörpers. Auch dies ein generelles Manko von Careys Darbietung: Sie zeigt zwar, dass man unter dem Einfluss von Anti-Depressiva noch halbwegs anständig singen kann. Andererseits agiert Mariah in jenen knapp 45 von gut 100 Minuten Gesamtzeit, in denen sie mit Gesang und Tanz die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich selbst fokussiert anstatt sich hinter der Bühne während der Solos ihrer Tänzer und Musiker oder den diversen Konserveneinspielungen zu erholen, auch so, als sei sogar der kleine Gefühlsrest, der bei solchen Las-Vegas-Showproduktionen üblicherweise erlaubt ist, in Watte eingepackt. Vielleicht hat die Diva genau deshalb trotz 150 Millionen verkaufter Platten noch keinen Boyfriend -sogar ein Abend mit „Durex gefühlsecht" lockt mit mehr unmittelbarer Emotion.

 

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