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Last Exit Kuschelrock: 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland

(Essay im "Nationaltheater" des "Rolling Stone" 01/2000)

In der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, so lasen wir vor gut zwei Jahren im "Vermischten" unserer Tageszeitung, rannte ein Jogger mit dem Kopf gegen einen Baum. Er war zu sehr vertieft gewesen in den Sound seines Walkmankopfhörers; drei Tage nach dem Unfall verstarb er an seinen schweren Kopfverletzungen. Unmittelbar vor dem Aufprall hatte er "Winds Of Change" von den Scorpions gehört. Und da soll noch mal einer sagen, deutsche Bands bekämen keine Killer-Hits mehr hin.

Bleiben wir noch für ein paar Zeilen im "Vermischten" und staunen, was die Deutsche Presseagentur unlängst zum Thema "Jugendkultur" in die Redaktionswelten hinaustickerte: "Gregor und Marius wissen exakt, was abgeht: Skater-Klamotten müssen ebenso sein wie Techno und viel Lack auf den superkurzen Haaren. Und wenn ein Freund zu den 17-jährigen Zwillingen aus Wuppertal (Nordrhein-Westfalen) kommt, dann wird er stilecht begrüßt: 'Hey Alter, was geht ab, Mann?', hört der Besuch, noch ehe er seinen Eastpack-Rucksack abgelegt hat." Ordentlich, wie die dpa nun mal recherchiert, folgt selbstverständlich sofort die Expertenmeinung: "Jugendliche haben ihre eigenen Rituale - und die sind von den Älteren nicht immer zu durchschauen. Psychologen meinen: Je liberaler das Elternhaus, desto mehr grenzen sich die Kinder ab. 'Puddingeltern', sagt Professor Rainer Dollase von der Universität Bielefeld, 'haben die schrillsten Kids'. Allerdings ist es aus seiner Sicht nur eine Minderheit der jungen Leute, die aus der Masse optisch und akustisch hervorstechen. Die meisten hingegen seien 'erstaunlich konform und so was von angepasst'."

Lernen, lernen, lernen - das also kommt heraus, wenn sich Berufsjugendliche aus Gelderwerbsgründen wieder einmal intensiv mit ihrem Problem beschäftigen, warum und wann sie den kognitiven Anschluss an die jüngeren Generationen verloren haben. Immerhin haben sie auch in diesem Fall drei kleine, aber seit Menschengedenken gültige Wahrheiten versteckt: Die Jugend spricht erstens ihre eigene Sprache, grenzt sich zweitens gerne vom Elternhaus ab und drittens gibt es überhaupt keine Jugend, weil die ja in ihrer breiten Masse genau das ist, ißt, trinkt, trägt und meint wie die Eltern - sie sieht dabei halt nur nicht ganz so alt aus.

Ein Thema, das man angesichts der lächerlichen 50 Nachkriegsjahre im Vergleich zu dem nun (allerdings nur nach christlich-kapitalistischer Zeitrechnung) zu Ende gehenden Jahrtausends nicht allzu hoch hängen sollte. Dennoch lohnt sich ein Blick auf ein paar marginale Gemeinsamkeiten in der Strudelrichtung der großen Pop-Strömungen in Deutschland nach dem Tag der Kapitulation vor den Alliierten.

Folgt man der zwölfteiligen Megatrend-Katalogisierung der WDR-Sendereihe "Pop 2000", hat es in Deutschland tatsächlich immer wieder so etwas wie hausgemachten "Pop" gegeben. Diese homegrown-These, von allen Kritikergenerationen in deren scheinbar unkaputtbaren angloamerikanischen Denkdominanz stets bis aufs Blut bestritten, geht zunächst davon aus, dass im vereinten Deutschland, wie zuvor auch in beiden deutschen Staaten, in schöner Regelmäßigkeit etwas speziell deutsches passieren konnte, wenn Deutsche Musik machen. Etwas, das so nicht passiert wäre, wenn - sagen wir mal - Franzosen oder Italiener Musik machen. Bei den Letztgenannten passiert vielleicht "Chanson" oder "Canzone", was weder ein neues Peugot-Sondermodell noch eine toskanische Nudelspezialität ist, hierzulande aber weitaus mehr Musikbeobachtern das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt als vergleichbare heimische Begriffe. Krautrock? Protestsong? Schlager? Deutschrock? Bäh!

Erst der deutschsprachige HipHop scheint auch in den mittleren Etagen der Denkfabriken als hoffähig akzeptiert worden zu sein - das allerdings erst, nachdem sich der "Pop"-Begriff selbst extrem ausgeweitet hatte: Pop, ursprünglich trotz weniger Kleinstausnahmen (Pop-Art) hautnah an die Erzeugung von Schallereignissen jeweder Art gekoppelt, wird inzwischen verstanden als die Summe aller Erscheinungsformen der Unterhaltungskultur - für Medienschaffende das Sammelbecken sämtlicher "weichen" Themen jenseits des klassischen Politik-Journalismus. Pop

auf der Zielgruppenseite mutierte zur medialen Schnittstelle der kleinsten gemeinsamen Interessenskennlinien tribalisierender "Ziel"-Gruppen vom "Teen" bis zum "Best Ager". Das hat Folgen: Die werbetreibende Wirtschaft focusiert ihre Käufergruppen-Scans verstärkt auf die Präferenzen des Pop-Konsumenten moderner Prägung (Musik, Fashion, Design, Film, Food, Trendsport, seit Schröder auch Politik). Sprechgesang auf Deutsch hat sich in den letzten Jahren auch deshalb derart prominent und massiv in die Charts whoppen lassen, weil sich seine Protagonisten im Gegensatz zu den Künstlern früherer Jahre für eben diese Cross-Vermarktung sowohl eigneten, als auch in großer Zahl hergaben: der HipHopper als "Bravo"-Trendfashion-Model, als Soap-Darsteller, als rappender Inline-Skater. Nette These. Sie hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: Sie ist grundfalsch.

Crossmediale Produktvermarktung gibt es - auch in Deutschland - seitdem es Pop-Musik gibt. Schon nach Beginn der - hier mal einfach so festgesetzten - Pop-Zeitrechnung: Ende der fünfziger Jahre wird es still um Ted Herold, dem einzig nennenswerten, halbwegs authentischen Rock'n'Roller des Landes. Er trug zwar die richtige Lederjacke und die richtigen Levis-Jeans, hatte die richtige Frisur und sang die für damalige Verhältnisse richtigen Songs - nur interessierte sich weder in der Filmbranche noch in der gesamten Markenartikelindustrie irgendein Schwein für Ted Herold als Werbeträger. Die Stars der zweiten Stufe waren von Beginn an schwiegermutterkompatibler - und überdauerten promt ihre Musikkarriere als Gesamtkunstwerke, bekannt aus Film, Funk und Werbung. Peter Kraus und Cornelia Froboess als das "Traumpaar" der Fünziger und frühen Sechziger (und Blaupausen späterer Pop-"Traumpaare" wie Rainer Langhans & Uschi Obermeier, Nina Hagen & Udo Lindenberg, Milli & Vanilli, Thomas Anders & Dieter Bohlen, Guildo Horn & Verona Feldbusch) hatten einfach die besseren Karten: Hübsche Film-Fressen, geeignet für Straßenfeger wie "Wenn die Conny mit dem Peter", aber auch für Trendsportpromotion ("Hula-Hoop"-Reifen) und "Bravo"-Anzeigen für die Mopedmarke "Milano". Die wichtigste Frage hierbei ist nicht die nach Henne oder Ei. Es geht nicht darum, wie groß zum Beispiel ein Marius Westernhagen werden muss, bis der Marketingleiter von "Beck's"-Bier sagt: "Westernhagen steht für Individualismus und Freiheit, er verkörpert die Markenphilosophie von Beck's." Es geht eher um die Frage, warum ein Heinz-Rudolf Kunze zum Beispiel sich mangels geeigneter Optik, Kooperationswillen und Markentauglichkeit per se nicht dazu eignet, die Umsatzträume des Bierkutschers in einem Sponsoring-Deal schäumen zu lassen.

Dass eben dies offenbar inzwischen leichter geht, steht auf einem anderen Blatt. Auch wenn das nicht sofort in jeden Kopf will. Achim Reichel, der seine Rattles wegen der Einberufung zum Wehrdienst Jahre, bevor sich die Totalvermarktungsfrage bei dieser Band hätte stellen lassen, verlassen musste, sieht sich und seine Altersgenossen am Ende des Jahrtausends jedenfalls weitaus flexibler als den Nachwuchs: "Heute treffe ich Leute meiner Generation mit grauen Haaren und langem Bart, und sie sagen: 'Alter, du musst mal auf einen Rave gehen &endash; das ist unser Ding von früher, das geht ab wie zur Hippiezeit'." Im Gegensatz dazu sieht sich Reichel von einer amorphen Masse junger, totalangepasster Säcke umgeben: "Es hat sich doch eine Menge verändert. Jeder, der einen Job hat, kriegt beim kleinsten Aufmucken zu hören, dass schon 20 andere auf seinen Job warten. Diese Bereitschaft zum Anpassen, kein Aufmucken aus Existenzängsten heraus &endash; das hat es früher nicht gegeben."

Hat es natürlich doch. In jeder Phase der sogenannten Pop-Kulturen waren es stets kleine, wuselige Minderheitengruppen, die sich, angetrieben von dem alterstypischen Drang, das junge Ego durch die Definition von Ausschlusskriterien vom Leben und Denken der Eltern abzusetzen, etwas anderes, neues einfallen ließen. Zunächst ist es nur ein kleiner Spass innerhalb der Gruppe, die erst dann merkt, dass sie eine Avantgarde war, wenn sie von dem übermächtigen C&A-Effekt eingeholt wird: Das, was sie einst als Erste sangen, beschallt bald die C&A-Kleiderstangen, auf denen das hängt, was sie einst als Erste trugen - und sogar die nette Verkäuferin mit ihren aufgeklebten Plastikfingernägeln schnattert den Jugendjargon, der einst einmal als gutbehüteter gruppeninterer Geheimsprech begann. Last Extit Kuschelrock: LSD-schwangere Psychedelia von Amon Düül bis Tangerine Dream endet als unverfängliches Blubbern in der Begleitmusik von Tier- und Natur-TV-Dokus von sich progressiv gebenden ZDF-Redakteuren; der Punk-Irokese sieht sich im Werbespot für "Wella"-Power-Haargel; der Protestsong erfährt in Nicoles "Ein bisschen Frieden" beim Schlager-"Grand-Prix" seine letzte denkbare Ölung, Foyer des Arts ("Wolfgang Siebeck hat ja so recht") sterben beim "Pogo in Togo" der United Balls; die 150 Tänzer der ersten "Love Parade" 1989 lösen sich wie Zucker im heißen "Gatorade"-Urin jener Millionen auf, die neben ihrer Notdurft jeden Juli auch einen gewaltigen Anteil des Tourismusjahresumsatzes in Berlin lassen, und ein Willy Brandt, der 1969 "mehr Demokratie wagen" wollte, findet seine unausweichliche finale Konsequenz in einem Gerhard Schröder, der an den Gitterstäben des Kanzleramtes rüttelt. Von innen jetzt, immerhin.

Alles wie gehabt? Nicht ganz, denn die jungen Generationen haben diese Vermarktungsmechanismen längst für sich selbst zu nutzen gelernt. Der Nachwuchsbücherschreiber Benjamin von Stuckrad-Barre zum Beispiel, nach modernem Verständnis so etwas wie ein "Popstar", läßt sich an der Seite seines Kollegen Christian Kracht ausgerechnet für eine Werbekampagne des kreuzkonservativen Mittelschichtanziehers "Peek & Cloppenburg" ablichten - wohlwissend, dass es dafür nicht nur ein stattliches Honorar, sondern auch noch eine kostenlose Eigenwerbung gibt: Zum Zeitpunkt der Kampagne jedenfalls war die Marke "P&K" noch tausend Mal bekannter als die Marke "BvSB". Eine "Verrats"-Diskussion im übrigen, die Die Fantastischen Vier schon vor Jahren mit ihrem Bekenntnis im MTV-Interview, "We are from the Mittelstand, you know", für immer beendet haben.

Denn in letzter Konsequenz macht die junge Generation mit diesem immer flüssiger gespielten Arpreggio auf der Klaviatur des Kommerzes auch die stärksten Waffen stumpf, die der Kapitalismus seit Kriegsende gegen die jeweils zunächst wehr- oder arbeitskraftzersetzenden Kulturelemente aufzubieten hatte - Plattenverträge, Werbeverträge, Sponsoringverträge, Filmverträge. So mancher sich für "im Kopf echt total jung geblieben" haltender Marketingleiter wird sich in den kommenden Jahren an die längst entflohene Stirn klatschen, wenn er schmerzhaft lernen muss, dass nicht er es ist, der mit Hilfe dieser "blutjungen neuen Band" seine Schokoriegel verkauft, sondern die "blutjunge neue Band " den Deal schamlos dazu benutzt, ihre Platten mit Hilfe der Schokoriegelwerbung zu verkaufen. Und das ist - ein kleiner Kalauer sei erlaubt - doch wirklich süß.

Immer bitterer dagegen wird der Geschmack im Munde fast aller Ost-Rocker und -Popper. Zu DDR-Zeiten schon hatten sie nie eine andere Chance, als aus der fünften Reihe zu starten. Ihnen fehlte an allem, was Pop schmackhaft macht: "Rotkäppchen" statt Pot, Wodka statt Trip, unbespielbare Gitarren und klapprige Verstärker aus volkseigener Produktion, außerhalb des staatlichen Singe-Club-Rahmens null Chance, einen Proberaum zu bekommen (war im Westen schon schwer genug) - und zu allem Überdruß noch ein politisches System, das scheinbar willkürlich, immer aber hölzern, unbeholfen und völlig verspätet abwechselnd mit Teilerlaubnissen und Totalverboten auf zart vibrierende Jugendbewegungen reagierte. Auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung ist nichts, aber auch rein gar nichts zusammengewachsen. Ehemalige Vorzeige-Ossis wie die Prinzen endeten als ostpreußische Pop-Junker, einzig Rammstein dürfen noch ein wenig herumwagnerianern.

Weil im vereinten Großdeutschland aber mittlerweile nichts mehr schockt, weil alles in jeder denkbaren Härte gleichzeitig und unaufgeregt koexistiert, und selbst das kecke Zitieren von NS-Symbolik höchstens ein paar altintellektuelle Toskanaweinnasen hinter ihren öffentlich-rechtlichen Redaktionsöfen hervorlockt, funktioniert auch das über Jahrzehnte stets gern gespielte Hasen-Igel-Spiel "Musik gegen Medien" nicht mehr. Als Hendrix seine Stratocaster bei "Hey Joe" mit der Zunge fellatierte, schrieben große deutsche Tageszeitungen noch Sätze wie diese: "Den Erfolg kann man nicht leugnen. Aber der sieht so aus, als hätte man ihn mit einer Banane aus dem Urwald gelockt." Heute dagegen ernten in die Breite gewachsene Chefredakteure deutscher Musikzeitschriften von den Kids noch nicht einmal mehr ein mildgütig-mitleidiges Lächeln, wenn die Alten, in ein "Corporate Magazines Suck"-Shirt gewandet, sich bei einem Tribal-Rave in die eigene Hippievergangenheit zurückhotten.

Im Gegenteil: Der Medienigel ist inzwischen meist sogar schon am Modebrennpunkt angekommen, während der Trendhase noch seine Haken schlägt. Haken sind überhaupt das einzige, was ihm noch als Mittel bleibt, um sich auf seiner Flucht vor den immer schneller werdenden Vermarktungsmonstern in seine fragilen Abgrenzungsbiotope zu retten. Klar, nicht der Große frisst den Kleinen. Doch auch die Regel, dass der Schnelle den Langsamen fressen wird, ist längst überholt. Der Wendige wird gewinnen. Der Trendmagazin-Redakteur, wohl wissend, dass nach Tattoos und Piercing jetzt Branding das nächste große Ding sein wird, steht, von allen jungen Geistern verlassen, verlegen lächelnd und auflagentechnisch allein gelassen am Kiosk und überlegt sich, ob er angesichts der wachsenden Zweifel seiner Venture-Kapitalgeber klug beraten war, so ein heißes Eisen wie den glühenden Brandingstempel überhaupt anzufassen. Dem Trendscout in der Werbeagentur nebenan fehlt diese Primärerfahrung mit den heißen Herdplatten der Jugendkultur noch. Er glaubt, dass Scaring das nächste grosse Ding wird. Das muss er auch glauben, schließlich will der Etat des Trendsportmarkenartikelherstellers aus dem hessischen Bergland gewonnen werden. Die Kids in der Zielgruppe indes gähnen kurz und schlagen wieder ein paar Haken zu: Sie lassen sich die Piercinglöcher zuwachsen, strampeln mit dem alten Hollandrad ins Freibad und schnitzen sich mit dem Fahrtenmesser lieber einen Apfel klein als Tribal-Tags in den linken Unterarm.

50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland - das ist natürlich nicht nur die Welt der "rockistischen" (wie BvSB sagt) oder "interessantristischen" (wie Westbam sagt) zeilengeldschindenden Kritikernasen, die deutsche Pop-Phänomene gerne in dem Doppelhohlspiegel der angeblichen Rezeptionspräferenzen angloamerikanischer Musikmedien sehen und denen deshalb auf die Frage, was denn nun an deutschem Pop international wichtig war, noch immer nichts besseres einfallt, als "99 Luftballons" über die Gräber von Can und Kraftwerk aufsteigen zu lassen. 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland - das ist ein weiterer Verdienst des deutschen HipHop - kann auch von einer inneren Perspektive aus gesehen werden: Noch nie seit den Zeiten Vico Torrianis und, mit Abstrichen, der NDW, brachte Musik mit deutschen Texten einen derart breit durch alle Bevölkerungsschichten verlaufenden gemeinsamen Geschmacksnenner hervor wie heute.

Auch wenn die rockistisch-interessantristische-Fraktion - zumeist Kleinstadtkinder, die nach ihrer Migration in die Medienmetropolen peinlichst darauf bedacht sind, sich bloß nicht durch einen Hauch des Restschwäbelns als Provinzposeure outen zu lassen - der Meinung ist, die Welt wäre eine Bessere, wenn es Existenzen wie Hartmut Engler oder Oli. P nicht gebe, auch wenn sie glauben, ihre Nase angesichts eines Arm in Arm mit den Scorpions "Winds Of Change" pfeifenden Pop-Bundeskanlzer noch ein Stückchen höher in die Sphären der reinen Vernunft heben zu dürfen, auch wenn die Heilserwartung an ein neues Public-Enemy-Album zugegebenermaßen höher sein kann als an die neue Setlur-Scheibe, auch wenn der deutsche Pop-Michel die Schlafmütze vielleicht nur aus allzu leicht durchschaubaren Motiven mit einer coolen Skaterkappe vertauscht hat - die deutsche Pop-Kultur hat dennoch 50 Jahre lang in schöner Regelmäßigkeit immer wieder in den Elternohren kakophonisch klingende Pubertäts-Soundtracks hervorgebracht, die jeweils für eine kurze Zeit sogar fast schon ein bisschen rebellisch klangen.

Die Mehrheit der Plattenkäufer - da machen wir uns besser nichts vor - wartet lieber ab, bis es den ehemaligen Avantgarde-Sound als Kuschelkompilation im "Schlecker"-Regal zu kaufen gibt. Schließlich schien es 1968 auch nur so, als ob ganz Berlin brenne. In Wahrheit brannten natürlich nur ein paar Autos, und der Rest des jungen Volkes staunte am heimischen Fernseher über ein paar Altersgenossen, die in der Mauerstadt ihren Kopf in den eiskalten Strahl der Wasserwerfer hielten. Ein paar Jahre später schon hatten sich auch die straßenkampfgestählten "Kinder von Marx und Cola" für Letzteres entschieden und spülten ihre Alltagslangweile mit Sexy-mini-super-flower-pop-op-Afri-Cola runter.

Doch was gilt nun für eine Zukunft, in der "Aldi" so schick ist wie "Armani"? "Viva"-Aktien so wertvoll wie "Veba"-Shares? Skispringer wie Schriftstellerfrischlinge zu Popstars hochgejazzt werden? Mittels MP3 und Internet jeder Klangdreck weltweit verfügbar gemacht wird? Ein Prepaidkartenhandy neben Zuckerstangen in jede Erstklässlerschultüte gehört? Jede Pissnelke zu einem Blümchen werden kann, jeder Pickelpennäler zu einem clipansagenden Teleprompter, jeder Seifenopernglitscher zu einem stargeschnittenen Jugendzimmerposter?

Bis vor ein paar Jahren noch war die Antwort auf all diese Fragen klar: Wenn ich das wüßte, wäre ich für alle Zeiten saniert. Als Trend-Marketing-Consultant. Dummerweise ist all diesen cleveren Fraktalisierungswellenreitern ein ganz bitteres Schicksal beschert - das kafkaeske Schicksal der jungen Magd, die vom goldenen Ritter geheiratet wird und nun schluchzt: "Er hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Und morgen, das hat er versprochen, erklärt er mir, welchen."

Peter Wagner

 

 

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