Interview Campino
(ME/Sounds 12/99)
14 Platten in 18 Jahren, das Millenium steht
vor der Tür, das neue Hosen-Album heißt
"Unsterblich" - das wäre doch eine prima
Gelegenheit, fragt sich die Redaktion, euch endlich
aufzulösen?
Das kann ich nur mit einer Gegenfrage
beantworten: Warum sind die Leute von ME/Sounds
noch in der Musikbranche? Warum machen sie noch
immer eine Musikzeitung, anstatt sich zu verpissen
und eine Briefmarkensammlerzeitung aufzumachen -
oder was sie sonst noch interessiert?
Uns interessiert Musik und ihre Macher - und
bei Euch speziell die Frage, wann man zu alt
für Punk Rock ist.
Es geht nicht um den Punkrock, sondern um die
Toten Hosen. Es geht nicht um die neue Schallplatte
für die Punk-Bewegung, sondern um die neue
Schallplatte der Toten Hosen. Jede Tournee, jede
Schallplatte spiele ich, als wär's die Letzte.
Ich genieße das in vollen Zügen und bin
auch jetzt voll euphorisch. Wir haben eine
Bestandsaufnahme gemacht mit dem Ergebnis: Wir sind
gesund, wir sind noch da, und deshalb gibt es jetzt
diese Platte und eine Tournee dazu. Iggy Pop,
Rolling Stones Aerosmith - es gibt eine Menge
Leute, wesentlich älter als wir und trotzdem
nicht peinlich sind. Keiner von uns tut so, als ob
wir noch 18 wären. Es ist ganz klar, daß
wir nicht mehr die "Jungs von der Opel-Gang" sind.
Ich komme aus der Punkrock-Generation, muss aber
nicht bis ins Grab irgendwelche Werte verteidigen,
die nicht mehr zur Diskussion stehen, weil
inzwischen ganz andere Wellen vorbeigezogen sind.
In eurem neuen Song "Helden oder Diebe"
singst du: "Auf dem Weg hierher haben wir mehr als
nur die Unschuld verloren". Was denn: Fans?
Spielfreude? Geld?
Das ist vor allem ein Signal an unsere Fans: Wir
sind uns bewusst, dass es manchmal schwer ist, zu
erklären, warum man ein Hosen-Fan ist. Ich
erwarte auch von AC/DC heute nicht mehr, dass sie
ein "Problem Child" sind - aber ich erwarte, dass
sie "Problem Child" spielen. Die Frage, ob wir
weitermachen sollen, definiere ich jedenfalls nicht
nach der Zahl der verkauften Platten oder
Konzerttickets. Die Kernfrage ist doch: Habe ich
Bock, diese Visagen der Band immer noch jeden
morgen im Proberaum zu sehen? Und so lange ich
diese Frage mit einem glasklaren "ja" beantworten
kann, mache ich weiter. Im Januar sind wir einen
Monat lang mit der Band und ein paar Kumpels auf
Motorrädern quer durch Indien gefahren. Dabei
ist nicht ein Wort über Musik gequatscht
worden. Wenn du so eine Ebene auch außerhalb
der Musik hast, ist Aufhören kein Thema.
Warum wirst du - noch ein neuer Song - "Nie
satt"?
Das war ja der Hintergrund deiner ersten Frage:
Wann werdet ihr endlich satt? Ich für mich
kann einfach nur sagen: Ich weiß nicht warum
ich an Lebenshunger nicht satt werde - und ich
weiß auch nicht, wann das passieren wird.
Kohlemäßig bin ich satt, aber es gibt
eine Menge anderer Dinge, die ich noch erleben
möchte. Man kann ja auf vieles gierig sein:
Macht, Frauen, Exzess, Extreme.
Worauf nun?
Auf Vieles. Das ist doch die große
Gerechtigkeit im Leben: Keiner wird je diesen
Zustand des Satt-Seins erreichen können. Und
wenn, ist es Zeit sich aufzuhängen. Ich
würde nie satt werden von solchen Dingen wie
diese Motorradtour zum Beispiel.
Man kann ja auch mal was spenden...
Das ist eine sauprivate Angelegenheit. Von mir
gibt es keine Homestory, und ich werde den Teufel
tun, zu erklären, inwieweit ich ein Gutmensch
bin, oder wofür ich Geld spende. Die Liste mit
den Dingen, die wir gemacht haben, ist lang: Wir
sind in Behindertenheimen aufgetreten, in
Suizid-Abteilungen im Knast und so weiter. Genug
jedenfalls, um von den Medien vorgeworfen zu
bekommen, wir würden uns damit ins
Promotionlicht stellen. Wie du es machst, ist es
verkehrt. Aber darüber denke ich nicht mehr
nach, das ist mir scheißegal. Es gibt auch
wichtigere Dinge, als über Sozialneid
nachzudenken.
Das kannst du dir bei deinem Kontostand auch
locker erlauben.
Quatsch! Ab wieviel D-Mark Gehalt muss man nicht
mehr auf wen neidisch sein? Wenn man die
Veranlagung dazu hat, kann man aus den
dümmsten Gründen heraus neidisch sein.
Ich könnte ja auch auf jemanden neidisch sein,
der eine Traumfrau hat, die ich begehre. Die Kohle
hat doch mit dem Neid nichts zu tun. Im Moment gibt
es keine andere Person, die bei den Toten Hosen
singt - deshalb muss ich auch auf niemanden
neidisch sein. Und wenn ich mir dann nach vier
Stunden Probe meine Nudeln koche und mich vor den
Fernseher setze, bin ich auf eine gute Art
ausgelaugt.
Viele Songs auf "Unsterblich" haben einen
eher reflektierenden, nachdenklichen Tenor.
Keine Sorge - es sind auch reichlich
Ballernummern drauf. Aber wir haben ein paar
Stilmittel mehr als früher drauf. Eine Nummer
zum Beispiel ist ausschließlich mit
Streichern instrumentiert. Vor zehn Jahren
hätten wir bestimmt Angst davor gehabt, das so
konsequent durchzuziehen. "Unsterblich" wird
dennoch nicht als eine der ruhigsten Hosen-Platten
in die Geschichte eingehen. Es ist doch gut, dass
wir uns nicht auf unser bestätigtes Kochrezept
von Hosen-kompatiblen Liedern reduzieren.
Soll euch das Album unsterblich machen?
Ach was - erstens fanden wir das Wortspiel "Tote
Hosen - unsterblich" witzig, und zweitens geht es
bei den meisten Songs ja um das genaue Gegenteil
von Unsterblichkeit: Zerbrechlichkeit,
Vergänglichkeit, Endlichkeit. Bei "Opium
fürs Volk" war "Glauben" der rote Faden, jetzt
sind es diese Dinge.
Wie kam es zu dieser neuen
Nachdenklichkeit?
Es wäre zu einfach, das an bestimmten
Schicksalsschlägen oder Menschen, den man
begegnet ist, festzumachen. Die Tendenz ist aber
tatsächlich, dass mir in der letzten Zeit
ernstere Sachen leichter von der Hand gegangen
sind. Das wird schon was mit meinem Leben zu tun
haben. Aber der einzige Spiegel, in dem man mich
öffentlich sehen kann, steht in meinen Texten.
Alles andere möchte ich nicht zu Markte
tragen.
Dennoch provozieren deine Texte Fragen. Zum
Beispiel, wenn du in einem Song die Situation
beschreibst, als du deinen Vater tot
entdecktest.
Das ist so passiert, vor knapp zwei Jahren.
Natürlich weiß ich selbst am besten, wie
und mit welchem Wasser ich was gekocht habe.
Todesfälle in der nächsten
Verwandtschaft ändern einen Menschen
grundlegend: sie markieren das Ende der
Kindheit.
Das sind Momente, durch die wir alle
durchmüssen. Ich glaube, dass man nicht dann
erwachsen wird, wenn man selber ein Kind macht,
sondern dann, wenn deine Eltern sterben.
Bist du dadurch endlich erwachsen
geworden?
Die Welt besteht nicht nur aus Kindern und
Erwachsenen, das ist zu schwarzweiß. Nur,
weil ich mich erwachsen fühle, würde ich
es mir nicht nehmen lassen, meine Flausen
auszuleben. Erwachsen werden muss ja nicht
heißen, das Genießen zu verlernen oder
immer nur in Verantwortung zu schwelgen.
Wird Campino jetzt ruhiger?
Das ist bei mir nicht anders als bei allen
Menschen: Ich versuche, meine Kraft besser
einzuteilen als früher. Als ich jünger
war, habe ich mich mit einer wahnsinnigen Energie
auf viele Dinge gestürzt, die völlig
unwichtig waren. Und jetzt überlege ich mir
genauer, was für mich wirklich wichtig ist -
und lege dann erst meine ganze Kraft hinein.
Wer sagt Dir rechtzeitig, dass du ein alter
Sack geworden bist?
Seitdem ich 20 bin, höre ich, dass ich ein
alter Sack bin. Noch sind wir bereit, uns dem Duell
zu stellen: Wer auch immer behauptet, er könne
mehr Gas geben als wir, der soll ruhig kommen. Und
wenn der Tag kommt, an dem wir nicht mehr über
die Bühne rennen können, werden wir uns
halt ein paar Barhocker nehmen und politisch
korrekte Lieder spielen.
Früher hieß es bei euch noch: "Wir
spielen so, wie wir Auto fahren - nicht gut, aber
schnell".
Der Slogan hatte zu dieser Zeit sicher seine
Berechtigung. Bis heute bezeichnen wir uns nur
ungern als "Musiker". Das Lied, das Gefühl ist
entscheidend. Es ist scheißegal, ob man das
mit einer Gitarre, einem Keyboard oder der Stimme
erreichen kann. Technische Fähigkeiten haben
in der Musik nichts mit Kreativität zu tun.
Trotzdem konnten wir es nicht verhindern, daß
wir besser geworden sind.
Euer Drummer Wölli konnte am
Schluß wegen seines Bandscheibenvorfalles die
Schlagzeugstöcke kaum mehr halten, der
Drum-Roadie Vom Ritchie sprang ein. Das ist nun
schon der dritte Drummer bei den Hosen - kehren
langsam Spinal-Tap-Verhältnisse ein?
Naja, es waren ja nur drei Schlagzeuger in knapp
20 Jahren.
Und keiner von ihnen ist auf der Bühne
explodiert.
Bei uns ist das anders als in anderen Bands.
Wölli bleibt Mitglied in allen Bereichen, ist
beim Mixen dabei, entscheidet weiterhin mit. Er hat
beim neuen Album auch auf ein paar leichteren
Nummern mitgespielt. Es ist ein
superglücklicher Zufall, dass unser Roadie als
Schlagzeuger nahtlos einspringen konnte. Jeder ist
durch seinen Geschmack und seine Fähigkeiten
limitiert. Da kann es schon was bringen, wenn von
außen neuer Einfluß dazu
stößt.
Wie der Liedermacher Funny van Dannen, mit
dem ihr ein paar Songs geschrieben habt?
Ein Stück, "Lesbische, schwarze
Behinderte", ist ganz von ihm, drei weitere (Die
erste Single "Schön Sein", "Der Mond, der
Kühlschrank und ich" und ein
Fußball-Song d. Red.) haben wir gemeinsam mit
Funny geschrieben. Rocko Schamoni wirkt auf einem
Kurzhörspiel mit und mit Frank Z. von
Abwärts haben wir seine Nummer "Sonntag im
Zoo" gespielt.
Langsam scheinen auch ein paar
zeitgemäße Techniken in die Hosen-Songs
zu sickern?
Bei uns steht immer eine Frage im Vordergrund:
Wie können wir den Song mit der Band spielen?
Klassiker wie Elton John komponieren am Klavier,
wir haben unsere Gitarren. Alles andere ist
zweitrangig. Auch wir arbeiten wahnsinnig viel mit
Elektronik, kriegen das aber so hin, dass es
relativ traditionell klingt. Wenn ich selbst Musik
höre, ist es mir völlig egal, auf welchen
Instrumenten sie hergestellt wurde.
Ist es dir auch egal, welcher Schwarzbrenner
die CD hergestellt hat?
Das ist doch eine alberne Diskussion. Da wollen
sich ein paar Leute verkrampft an ihrem Ast
festhalten, der so oder so abgesägt wird,
spätenstens durch das Internet. Andererseits
haben die Menschen tatsächlich ein seltsames
Verhältnis zur Musik entwickelt: Sie bezahlen
zum Beispiel für Bücher, denken aber,
Musik ist frei. Deshalb glauben sie, es sei in
Ordnung, CDs zu kopieren und auf dem Schulhof zu
verkaufen.
Habt Ihr früher nie selbst aufgenommene
Cassetten verkauft?
Cassetten verkaufen ist schon o.k. Aber wenn das
darauf hinausläuft, dass es jeder Idiot macht,
der einfach nur Kohle scheffeln will, der in seinem
Rucksack neben der Hosen-Platte auch noch die neue
Peter Maffay verscherbelt - dann verdient da ganz
klar der falsche Mann.
Campino möchte also auch das
Unrechtsbewusstein auf den Schulhöfen
stärken?
Nein, überhaupt nicht. Ich möchte nur
mal klar stellen, dass die Leute wissen sollten,
wem sie damit das Geld wegnehmen. Aber wir sind die
letzten, die jetzt losheulen wollen. Wir haben die
Umstellung von Vinyl auf CD erlebt und sehen jetzt
wieder große Veränderungen kommen. Wenn
der Plattenmarkt nun einbricht - sonst wäre
die Grenze für "Gold" ja wohl nicht von
250.000 auf 150.000 gesenkt worden - soll das
für uns in Ordnung sein. Wir haben unser
Stück vom Kuchen und unseren Spaß
gehabt. Und Spaß haben wir immer noch.
Letztendlich ist die Situation für die
unbekannten Bands existenziell, für uns aber
nicht.
Fehlendes Geld für
Nachwuchsförderung - genau das ist das
Argument der Industrie.
Ach was - die Industrie hat unbekannte Bands
noch nie unterstützt. Das ist doch
Sozialarbeitergequatsche. Es ist nie vorgekommen,
dass sich Plattenfirmen aus ideologischen
Gründen um irgend jemand gekümmert
hätten. Das ist doch immer die selbe Taktik:
Du hast zehn Gäule, die vielversprechend sind.
Du setzt auf jeden ein bisschen was - und der, der
von selber abgeht, kriegt die Schütte
hinterher. Der Rest muss zusehen, wie er
weiterkommt.
Verglichen mit dem, was bei eurem 1000.
Konzert im Düsseldorfer Rheinstadion passierte
(ein Mädchen starb im Zuschauergetümmel),
ist auch die schwärzeste CD-Brennerei
Pipifax.
Der Tag war tatsächlich in allen Bereichen
ein Schlüsselerlebnis, ein Knackpunkt und ein
Wendepunkt - aber das wäre es auch gewesen,
wenn das Mädchen nicht gestorben wäre,
allerdings in anderer Hinsicht. Es war die 1000.
Show, ein Höhepunkt: 65.000 Leute, die alle
nur die Hosen sehen wollten. Damit war automatisch
ein Kapitel beendet.
Ihr mußtet das Konzert zunächst
abbrechen - und ausgerechnet Campino
begrüßte über das Mikro
ausdrücklich die große Zahl der auf der
Bühne anwesenden Polizisten...
Auf jeden Fall war es gut, daß die
Einsatzkräfte nachgesehen haben, ob vielleicht
noch jemand im Publikum liegt.
Wer hatte Dir die Nachricht
überbracht?
Während der fünften Nummer ist unser
Tourmanager zu mir gekommen und sagte mir, es sei
etwas schreckliches passiert. Es ist vielleicht
jemand gestorben. Ich dachte, es ist vielleicht nur
ein Gerücht und schickte ihn zu dem Arzt, der
ihm das definitiv bestätigen kann. Zwei Lieder
später kam er an und meinte, es ist
tatsächlich ein Mensch gestorben.
Ihr habt das Konzert sofort abgebrochen,
später aber weitergespielt. Warum?
Wir hatten eine Einsatzbesprechung mit dem Roten
Kreuz, dem Katastrophenschutz, der Polizei und dem
Chef der Feuerwehr. Die haben auf uns eingeredet,
daß wir weitermachen müssen, damit keine
Panik ausbricht. Die haben uns gesagt: Wenn ihr
jetzt aufhört und alle strömen nach
draußen, wo keine Straßenbahn bereit
steht und niemand darauf eingerichtet ist, und wenn
sich vielleicht herumspricht, was passiert ist, und
die Leute anfangen, in Panik loszulaufen - dann
kann noch viel mehr passieren.
Wie kann man in einer solchen Situation noch
Musik machen?
Es ging eine gute Stunde lang für uns durch
die Hölle. Wir wußten, was los war,
mussten die Sache aber so durchziehen, daß
die Menschen nicht beunruhigt werden. Wir haben das
Set umgestellt und die Sache irgendwie hinter uns
gebracht.
Du bist ganz rauf auf das Zeltdach geklettert
und hast einige Songs von da oben gesungen. War das
dein Opfer - dich selbst in akute Lebensgefahr zu
bringen?
Das war für mich noch die angenehmste
Stelle: Ganz allein nur für mich. Es war wie
Russisch Roulette. Mir war scheißegal, ob ich
abstürze. Ich war in einem Stadium, in dem ich
nicht mehr als zurechnungsfähig beurteilt
worden wäre. Die normale Wertevorstellung, die
einem davon abhält, Dinge zu tun, die
vielleicht echt gefährlich werden
könnten, war nicht mehr vorhanden. Du stehst
unter Schock und reagierst in Teilbereichen so, wie
man es von dir erwartet. Wie nach einem schweren
Unfall auf der Autobahn, wenn Du schwer Verletzte
aus einem Autowrack ziehen musst.
Wann wurde dir das erste Mal richtig klar,
was passiert ist?
Als die Garderobentür hinter uns zuging,
kam der komplette Zusammenbruch. Meine ganze
Familie war im Stadion, meine fünf
Geschwister, meine Eltern. Ich habe niemanden sehen
wollen. Wem hätten wir denn noch was sagen
können? Ich bin irgendwann nach Hause gefahren
und hab mir einen getrunken. An Schlafen war nicht
zu denken in der Nacht.
Fühltest du dich schuldig?
Ein paar Tage später haben wir
Videobänder von der Polizei und vom Fernsehen
bekommen. Ich wollte sehen, ob wir etwas anders
hätten machen können. Dieses Mädchen
war jedenfalls gesund, hatte nichts getrunken und
auch keine Drogen genommen. Sie ist an einer Stelle
zu Tode gekommen, an der relativ wenig Menschen
waren. Das Mädchen muss kurz vor Beginn der
Show oder während der ersten Nummer gestorben
sein. So ein Unglück kann auch in einem Club
mit 100 Leuten passieren - es rutscht einer auf
einer Bierlache aus und knallt tödlich auf den
Hinterkopf. In dieser Nacht sind insgesamt 20
Menschen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Wir
wollten am Montag darauf dann alle besuchen, die
noch in den Krankenhäusern waren. Wir trafen
gerade mal zwei Menschen an, der Rest war bereits
entlassen. Ein Typ hatte einen Wadenbeinbruch am
Nachmittag bei dem Auftritt von Bad Religion
erlitten, ein Mädchen hatte ein
Schleudertrauma. Für ein Volksfest mit 65.000
Leuten ist das sehr ruhig...wenn nur das
Mädchen nicht gestorben wäre. In erster
Linie hat dieses Erlebnis die Familie des
Mädchens getroffen - uns erst in zweiter
Hinsicht. Das Beschissene daran ist, daß es
bei den Hosen ja immer vor allem um Leben ging - um
Lebensfreude, Lebenshunger.
Die Hosen wurden auf einen Schlag ein
gefundenes Fressen für die Klatschmedien.
Rückblickend muss ich sagen, daß uns
die meisten Menschen fair behandelt haben. Und
diejenigen, auf die es letztlich ankam, haben uns
am fairsten behandelt: der Justizminister, der
Untersuchungsausschuss, Feuerwehr, Rotes Kreuz, die
Polizei. Natürlich haben einige Reporter Blut
geleckt und gedacht: "Jetzt kriegen wir sie dran."
Dann gab es Headlines wie "Die Tote und das Spiel
der Toten Hosen". In dem Moment konnten wir nichts
dagegen sagen, denn sowas riecht dann schnell nach
Rechtfertigung. Wir mussten in dieser Zeit viel
Scheiße über uns ergießen lassen.
Aber das war egal. Viel wichtiger war, daß
uns die Familie des Mädchens eingeladen hat.
Wie die mit diesem tragischen Erlebnis umgegangen
sind, war für uns ein großer Trost.
Deshalb gab es wohl auch die lange
Album-Pause, nur unterbrochen durch eine
Rote-Rosen-Spaßplatte?
Letztes Jahr wären wir noch nicht weit
genug gewesen, eine reguläre Hosen-Platte zu
machen. Deshalb sind wir ja auch in dieses "Rote
Rosen"-Ding reingestolpert - um erst mal die
nötige Lockerheit zu bekommen.
Was exakt war der Auslöser, das erste
Mal nach dem Unglück die Instrumente wieder in
die Hand zu nehmen?
Wie alle paar Wochen trafen wir uns im
Büro, um uns auszutauschen. Und da lag ein Fax
aus Amerika von der "Warped Tour" mit dem Angebot,
in Australien mitzuspielen. Alle haben sofort
gewusst: Am anderen Ende der Welt wieder vor vielen
Leuten spielen zu können, ist die
Möglichkeit, aus dieser Einbahnstraße
rauszukommen. Wir sind in den Proberaum gegangen
und waren sofort euphorisch. So entstand "Pushed
Again". Als wir in Australien wieder auf der
Bühne vor stagedivenden Leuten standen, ist
bei uns allen natürlich der Rheinstadion-Film
im Kopf abgelaufen. Die Australien-Sache war ein
Riesen-Glück. Ich weiß nicht, wie es
sonst gekommen wäre. Wir hatten und haben sehr
kontroverse Meinungen in der Band, wie mit
Livekonzerten umzugehen ist, und einige von uns
hatten definitiv keine Lust mehr, so zu spielen.
Viele Menschen, denen ein Kind vors Auto
lief, konnten sich auch nie wieder ans Steuer
setzen.
Das ist jetzt nur meine Meinung: Wie ein Jockey,
der vom Pferd fällt, musst du einfach wieder
drauf klettern und durchreiten. Uli, ein guter
Freund von mir, ist Eishockeyspieler. Er hat mir
gesagt: "Wenn du mit dem Puck auf Tor zielst, aber
einen im Publikum am Kopf triffst, musst du
trotzdem wieder am nächsten Sonntag aufs Eis
gehen. Und wenn du dann den Puck nicht genauso hart
in Richtung Tor schießen kannst, wirst du
ausgetauscht." Genau das war die Diskussion bei
uns: Wir sind dafür beliebt, daß bei
Konzerten die Leute gemeinsam mit uns feiern.
Keiner will die Toten Hosen in einer bestuhlten
Halle erleben. Und wenn wir diese Sache
nicht mehr machen, werden die Leute zu anderen
Bands gehen, die es genauso gut können. Dann
feiern sie eben bei Rage Against The Machine.
Heißt das für die Hosen: nie
wieder eigene Stadion-Gigs?
Es ist auf jeden Fall noch immer wahnsinnig
schwer, in der Band darüber zu reden. Bis
heute gibt es Leute in der Band, die das nicht mehr
wollen. Ich behaupte: Erst, wenn wir wieder eine
Stadionshow gespielt haben, können wir diesen
Geist austreiben.
Ist das der Knackpunkt, an dem die Band
zerbrechen könnte?
Nein, notfalls werden die
Stadion-Befürworter zurückstecken. Der
einzige Grund, aufzuhören, wäre,
daß wir uns verkrachen. Ich verspreche
hiermit: Dann würde ich tausendprozentig keine
neue Band mehr gründen wollen. Das passiert in
meinem Leben nicht mehr. Das letzte Konzert der
Toten Hosen wird auch mein letztes Konzert sein.
Peter von Stahl
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