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Philip Boa - Solodebüt (Feature & Interview, WOM-Titelstory 2/98)

FREUDENTRÄNEN IN DER VILLA HATE

13 Jahre Popkarriere, 40 Singles, 13 Alben - und dann traut sich dieser Mann jetzt von einem "Debüt" zu sprechen? PHILLIP BOA war schon immer für eine Überraschung gut. Und er lügt auch diesmal nicht: sein aktuelles Album "Lord Garbage" ist Boas erstes musikalisches Lebenszeichen nach dem großen Schnitt in seinem Leben. Der Avantgarde-Rocker trennte sich von Band und Pia, seiner Frau und Musik-Partnertin, und ist nun allein mit seinen Songs und der Welt. Ein echtes Solodebüt also.

Festen Schrittes betritt der Mann, der in seiner Karriere schon mehr Journalistenzähne ausgeschlagen hat als andere Popstars in diesem Land Platten veröffentlicht haben, die Bar des noblen Hamburger Hotels "Atlantic" und winkt lässig seinem Bekannten am Tresen zu. Der sitzt stumm mit Hut und Sonnenbrille vor seinem Champagner und reagiert nicht. Erst bei "Hi Udo" erhellt sich Lindenbergs Gesicht: "Hi Boa". Phillip Boa wird in diesen Tagen oftmals nicht gleich auf den ersten Blick erkannt - die dunkelblauen Maßanzüge von einem Dubliner Schneider, die er mit artig gefalteten Seidenhalstuch zur Zeit gerne trägt, erinnern nur blaß an jenen Phillip Boa der früheren Tage, der mit Doc Marten Boots und schwerer Lederjacke signalisierte: "Mach mich nicht an!" Was ist passiert? Ist der pöbelnde Avantgarderocker von damals plötzlich zum höflichen, zuvorkommenden Mittdreißiger in feinem Zwirn mutiert? Hat er zuviel Happy-Pillen geschluckt? Die Antwort ist viel simpler: Phillip Boa ist geschieden.

13 Jahre lang hatte Boa an der Seite seiner Frau und musikalischen Partnerin Pia Lundt gelitten, geliebt, gestritten und gerockt, bis schließlich vor eineinhalb Jahren diese kreativste aller deutschen Pop-Beziehungskisten auseinanderbrach.

Wie kaum ein anderer Künstler in Deutschland hatte er sich immer den gerade dominanten Moden verweigert und konsequent an seiner verqueren Vorstellung, wie anspruchsvolle Popmusik zu klingen habe. Stets war bei diesem Kampf Pia der Mensch, der Boas Depressionen und Dämonen sowohl aushalten mußte, aber auch immer wieder dabei half, diese Abgründe in spannende, unangepaßte Songs zu verwandeln.

Typisch für Boas Fähigkeit, sich in einem Satz mühelos drei mal selbst widersprechen zu können, waren denn auch seine Statements zu dem Anfang 1997 veröffentlichten "Best Of"-Album "Fine Art On Silver" samt der darauffolgenden Tour. Eine "Abschiedstournee von Pia und dem Voodooclub" (seiner langjährigen Begleitband) sollte es werden. Gleich relativierte er aber wieder: "Sag niemals nie." Die 97er Tournee wurde zum Rosenkrieg hinter den Bühnen: Obwohl Boas Ehe noch nicht geschieden war, fuhr bereits seine neue Freundin Val, eine auf Malta lebende Amerikanerin, mit. "Eine beschissene Situation", erinnert sich Phillip an das Katz und Maus-Spiel, während der Tour ständig auf der Hut sein zu müssen, daß sich Val und Pia nicht über den Weg laufen.

Die Zeit, die seitdem vergangen ist, heilte auch diese Wunden. Pia und Boa sind geschieden, aber noch immer gut befreundet. Sie hörte sich die Demos seines neuen Albums an, dafür schrieb er ein paar Texte für Pias demnächst erscheinendes Solodebüt.

Boa wirkt seitdem so befreit wie nie in den letzten zehn Jahren. Wenn er nun in alten Magazinen blättert, bemerkt er: "Wann immer ich Interviews mit mir lese, finde ich diesen Menschen, der da interviewt wird, oft ziemlich unsympathisch." Boa hatte lange Zeit lustvoll sein Image als "Arschloch mit Niveau" gepflegt, ein Image, das ihm nun seltsam fremd vorkommt. Von Depression, die ohne jede Vorwarnung in selbstzerstörerische Aggression umschlagen konnte, ist keine Spur mehr zu sehen - weder in seinem Leben noch in den Songs seines Solo-Albums "Lord Garbage". Songs, die im Vergleich zu früheren Boa-Brachialwerken von einer ungewohnt positiven, zum Teil schon fast euphorischen Grundstimmung getragen werden. Einzig der stampfend-marschmäßige Rhythmus - einst unverwechselbares Markenzeichen von Boa-Platten - klingt in einigen wenigen Songs noch durch. Ansonsten aber ist "Lord Garbage" durchzogen von dem festen Willen eines vom Grübler zum lebensfrohen Menschenfreund konvertierten Klangbastlers, bloß nicht in alte Gewohnheiten zurückzufallen. Boa-Songs waren immer schwere Kost, tiefschürfende Exkursionen in die Abgründe einer verletzbaren Seele, die er durch einen dicken Panzer aus brachialen Arrangements, mutwilligen Rhythmusbrüchen und einem aufgesetzt-artifiziellem Arschloch-Image von der bösen Außenwelt abschirmte: "Früher habe ich mein Leben oft selbst zur Hölle gemacht. Ich habe alles hinterfragt, hatte große Selbstzweifel, wenig Selbstbewußtsein - was nach außen hin in das Gegenteil umkippte - ein übersteigertes, aufgeblasenes Ego. Ich konnte das Leben nicht genießen." Genau dies lernte er jetzt an der Seite seiner neuen Freundin, auf Malta, in Südfrankreich oder in Mailand, wo er einen Großteil der neuen Songs aufnahm. Mit Erfolg: "Ich habe so gut wie keine Depressionen mehr. Vor ein paar Jahren war es oft so, daß ich morgens nicht aufstehen konnte. Ich war umgeben von düsteren Alpträumen, habe zu viel Wein getrunken und konnte noch nicht einmal mehr die Rolladen hochziehen."

Boa hatte als der große, leicht verwirrt durchs Leben tapsende Grübler bislang immer große Probleme damit, sich zu den einfachen Wahrheiten zu bekennen. Zu jedem Stoff also, über den die großen Songs der Popgeschichte geschrieben wurden: Liebe, Tod, Haß, Einsamkeit.

Alles Themen, aus denen Boa die Musik von "Lord Garbage" schnitzte. "I feel like a haunted angel" singt er zwar noch auf dem ersten Song "Sattelite Man", doch der gejagte Engel schwingt da schon in einem zärtlichen Rhythmus. Liebe, die er nun recht spät, aber offensichtlich nicht zu spät für sich wiederentdeckte, taucht in vielen Songs auf. Schon die Titel zeigen, daß Boas neues Selbstvertrauen emotionale Gründe hat. Einer heißt zwar "Villa Hate", ansonsten aber ist Liebe Trumpf: "Kiss My Soul", "Sleep With Me", "Love Spread Around Me", "Love Me Like An Alien", "Like Gods And Heroes In Spring".

Begrüßten Boa-Fans auf früheren Tourneen ihren Star noch gerne mit zärtlichen "Arschloch, Arschloch"-Rufen, so werden sie im Frühjahr kollektiv mit den Fingern auf die Bühne zeigen und gröhlen: "Hi, Hi, Hi - Boa ist verleibt!"

PETER VON STAHL

 

INTERVIEW

Hey - Boa kann ja singen!

"Es blieb mir auch nichts anderes übrig, als jetzt die Refrains selbst zu singen. Ich war ja ohne Pia ganz auf mich allein gestellt - also bin ich besser gut als mittelmäßig. Ich kann mich hinter niemandem verstecken, ich mußte es alleine bringen."

Hast Du dafür Gesangsunterricht genommen?

"Nur eine Woche in Dublin, zwei Stunden täglich. Die Lehrerin hat mir den Tip gegeben, einfach immer zu singen. Im Auto oder zu Hause - immer singen. Auch mein Produzent Gareth Jones hat mir sehr geholfen. Er ließ mich im Kontrollraum singen - mit eingeschalteten Lautsprecherboxen. Da stehst du also vor dem Mikro und um dich herum stehen zehn Leute. Du brauchst vielleicht ein bißchen Wein, um locker zu werden. Alles ist dunkel, Räucherstäbchen brennen. Du stehst da und mußt performen. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als einfach loszusingen. Wie im Konzert - da kannst du die Leute auch nicht wegschicken."

Die Songs auf "Lord Garbage" wirken viel flüssiger, nicht so zusammenkonstruiert wie früher.

"Ich habe viel allein oder mit meinem Engineer und Freund David Vella auf Malta zusammen gemacht. 'Kiss My Soul' zum Beispiel oder 'Villa Hate' und drei weitere Songs entstanden sehr direkt und spontan. Ich habe zu einem simplen Drumbeat Gitarre gespielt und gesungen. Für einen wie mich, der ja nicht aus England kommt, ist es schwierig, in der Pop-Musik eine echte Einheit zwischen Text und Musik zu schaffen. Und da ist der direkte Weg am besten."

Früher konnte man immer hören, welche Platten sich Boa in der Produktionsphase seiner jeweiligen Alben gekauft hat. Bei "Lord Garbage" sind solche Fremdeinflüsse kaum bemerkbar.

"Das liegt daran, daß ich mich ziemlich abgeschottet habe. Ich habe mich zunächst generell darüber informiert, was gerade trendy ist. Und dann mußte ich sehen, wie zum Beispiel Bowie genau an diesem Drum&Bass-Ansatz gescheitert ist. Nicht auf der Platte, aber live. Dadurch kam ich für mich zu dem Schluß, daß man das Songwriting, den Song, nicht irgendwelchen Trends oder irgendwelcher Technik opfern darf."

Das ist aber in Zeiten von Drum&Bass und Techno nicht sehr trendy.

"Der Song steht bei mir jetzt im Vordergrund. Und den darf ich nicht dafür opfern, daß ich irgendwie trendy klingen möchte - so wie es bei dem 'She'-Album war. Das funktionierte nicht. Man kann nicht coole, elektronische Dance-Musik machen und gleichzeitig in einem Song eine Geschichte erzählen. Außerdem wollte ich mich von dieser ganzen Hipness lossagen. Man kann doch nicht 13 Jahre lang hip sein. Man ist einmal hip und dann nie wieder. Zur Indiezeit war ich irgendwie hip - und das war nicht gerade eine dankbare Situation."

Wie siehst Du Deine momentane Situation?

"Ich möchte ein bißchen so wie Van Morrisson werden - aber der Typ schreibt immer Songs, macht immer Musik, doch für eine Fotosession ist er zu faul, und er gibt höchstens zwei Interviews pro Jahr. Ansonsten gibt er das Material seiner Plattenfirma und arbeitet dann, wenn er Lust hat, weiter. So, wie er das macht, ist er unmanipulierbar. Dahin möchte ich ganz langsam kommen. Raus aus dieser Marketingmaschine."

Wird so schlimm nicht sein, der Beruf des Popstars...

"Ach was! Ich bin so froh mit dem, was ich habe. Ich wundere mich über jedes Jahr, in dem ich mit den selben Budgets und in etwa dem selben Erfolg weiter machen kann. Ich werde wieder auf Tour gehen, denn das macht Spaß. In der restlichen Zeit werde ich viel reisen, Ideen sammeln und dann ins Studio gehen. So soll mein Leben sein. Ausstellungen besuchen, Texte schreiben, Vielleicht mal nach Indien fahren. Leben und arbeiten - wie man das eben so macht."

Interview: PETER VON STAHL

 

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